Eine Kindheit in Berlin (5)

Von Kochkisten, Sport und Kaufhaus Wertheim

von E.G.

E.G.undat. - Foto © Musenblätter
Eine Kindheit in Berlin
(5)



Unsere Schule war damals führend auf dem Sektor Sport, denn wir hatten täglich eine Stunde Sport auf dem Stundenplan, das war einmalig an Berliner Schulen. Bei mir löste es eine Sportbegeisterung ohnegleichen aus, so daß ich jedes Angebot der Schule nutzte, das auch außerhalb der eigentlichen Schulzeit lag: ich wurde Mitglied im Turnverein, ging zum Schwimmen und später trat ich in die Ruderriege der Schule ein, deren Vorsitzende ich dann eines Tages wurde. Aber das war dann schon in den oberen Klassen (so ab Tertia).
 
Ofenröhren und Kochkisten

Jetzt will ich versuchen zu schildern, wie in etwa meine Nachmittage ohne mütterliche Aufsicht verliefen. Es war ganz unterschiedlich. Zunächst mal fand ich im Winter stets in der Ofenröhre ein warmes Mittagessen, das mir meine Mutti morgens hineingestellt hatte. Ofenröhre, was war das nun wieder? Die meisten Kachelöfen hatten ungefähr in halber Höhe an der Frontseite eine mit Metall ausgeschlagene und durch eine Gittertür geschlossene Öffnung (oder Luke?), die Röhre hieß. Die Tür hatte eine Schiebevorrichtung, so daß man sie ganz schließen oder auch teilweise öffnen konnte (Letzteres, um die Wärme entweichen zu lassen, wenn die Röhre nicht zum Warmhalten von Getränken oder Speisen benötigt wurde.) In dieser Röhre entstanden im Winter z. B. die herrlichsten Bratäpfel, die man sich vorstellen kann. Man brauchte den Apfel nur hineinzulegen und nach der benötigten Zeit holte man einen butterweich geschmorten Apfel wieder heraus. Solch eine Bratröhre habe ich mir später, als ich bedeutend komfortabler wohnte, oft gewünscht! Na ja, wie gesagt, im Winter fand ich jeden Mittag ein leckeres warmes Essen darin vor. Im Sommer gab es etwa anderes, um mir Essen warm zu stellen: eine Kochkiste!  Das war eine doppelwandige Holzkiste, groß genug, um Platz für einen Kochtopf zu bieten, nachdem man sie vorher noch mit Zeitungspapier ausgefüttert hatte. Wenn ich im Sommer also warmes Essen vorfinden sollte, kam es dort hinein. Mutti sorgte wirklich gut für mich und legte damit sicher den Grundstein dazu, daß ich heute, als alter Mensch, nicht auf ein gutes Mittagessen verzichten möchte!
 
Sport und Spiel

Nach dem Essen machte ich meine Schulaufgaben, was immer ziemlich schnell ging. Danach bekam ich oft Besuch von Schulfreundinnen, mit denen ich dann bei uns zu Hause herrlich spielen konnte. Wir hatten einen sehr langen Korridor, der sich, wenn wir den Läufer aufgerollt hatten, wunderbar zum

E.G. undat. - Foto © Musenblätter
„Hopse spielen“ eignete. Wir malten die „Hopse“ auf den Steinfußboden und vergnügten uns dort. Oder aber wir benutzten den großen dunklen Kleiderschrank, der im Korridor stand, als Tafel, auf die wir Aufgaben schrieben und spielten Schule. – Ziemlich zu Beginn meiner dortigen Selbständigkeit muß es gewesen  sein, als wir in unserem Wohnzimmer aus unseren Stühlen eine Art Fahrzeug bauten (Auto oder Zug, ich weiß es nicht mehr), mit dem wir zu irgendwelchen Zielen eilten. Diese Erinnerung ist ziemlich verschwommen, aber sie ist doch da.
Was ich am Nachmittag machte, war ja meiner eigenen Entscheidung überlassen. Des öfteren besuchte ich auch meine Freundinnen zu Hause und fand es ganz toll, wenn dort am Nachmittag im Familienkreis Kaffee getrunken wurde, wozu vorher von uns frische Brötchen geholt wurden, die es dann mit leckerer Marmelade gab. Besonders imponierte mir der Haushalt einer Freundin, in dem es ein Klavier gab, auf dem ich die Tonleiter spielen lernte. Übrigens das einzige Instrument, das ich je gespielt habe.
 
Kaufhaus Wertheim

Als ich erst einmal schwimmen konnte, ging ich im Sommer auch gern in die Badeanstalt. Einmal in der Woche war nachmittags Turnverein, den ich natürlich nicht ausließ. Im Winter ging ich Schlittschuhlaufen, wenn es gefroren hatte und unsere Eisbahn am Innsbrucker Platz geöffnet war. Ich kann mich nicht erinnern, mich einsam gefühlt zu haben, da ich eigentlich immer etwa vorhatte. Wenn dann zum Abend die Zeit herankam, daß meine Mutti nach Hause kommen sollte, ging ich zum Bahnhof Friedenau, an dem sie ankam, um sie dort abzuholen. Später, als ich schon etwas größer war, vielleicht so mit 9 oder 10 Jahren, fuhr ich oftmals zum Potsdamer Platz, um sie bei Wertheim abzuholen. Das große Warenhaus Wertheim, in dem meine Mutti zuerst als Kassiererin gearbeitet hatte und später im Reisebüro angestellt war, war so etwas wie mein zweites Zuhause. Ich liebte es, mich dort aufzuhalten. Leider bin ich nicht imstande zu schildern, wie schön und eindrucksvoll das Riesenhaus gestaltet war. Es war für mich ein Erlebnis, durch die opulent bestückten und dekorierten einzelnen Etagen zu gehen. Wenn man in der jetzigen Zeit das „KaDeWe“ in Berlin als toll und bewundernswert preist, dann muß ich sagen: Ihr kennt alle nicht das „Wertheim“ am Potsdamer Platz!
 
Die Wochenenden zu Haus

An den Wochenenden hatte meine Mutti immer viel zu tun, um die wochentags liegen gebliebene Hausarbeit aufzuholen, wie z. B. einen Riesenabwasch, den sie sammelte. Ich muß sagen, es war äußerst gemütlich, wenn wir da in der Küche – im Winter in dicke Strickjacken gehüllt – zusammen arbeiteten, denn natürlich half ich ihr, meinem Alter entsprechend, soweit ich konnte. Kinder sind ja neugierig und ich wollte auch so viel wie möglich aus ihrer Kindheit hören. Sie hatte ihre Kindheit in Thorn (Westpreußen) verlebt und war mit 4 Geschwistern, 3 Brüdern und einer Schwester, aufgewachsen. Der Vater war ein selbständiger kleiner Bauunternehmer, der mit seinem Verdienst natürlich sehr davon abhängig war, welche Aufträge er bekam. Sie lebten bestimmt nicht in glänzenden Verhältnissen und hatten bescheidene Wohnungen. Mutti konnte sich dunkel erinnern, daß ihre Wohnung einmal abgebrannt war, als sie noch klein war. Aber sie wußte noch, daß es für die  Familie sehr schlimm gewesen ist. Meine Großeltern waren fromme Katholiken, die sich in einem kirchlichen Verein kennengelernt hatten. Mein Großvater war Witwer, und es war seine zweite Ehe. Aus erster Ehe hatte er bereits eine Tochter, die aber nicht mehr mit im Haushalt lebte, sie war bedeutend älter und Mutti wußte nicht, was aus ihr geworden war.


Schultheater-Aufführung, undat. - E.G. 2. v. re. (kniend) - Foto © Musenblätter
 
Mutti und ihre Geschwister mußten als Kinder selbstverständlich regelmäßig zur Kirche gehen, und sie erinnerte sich noch daran, wie schrecklich es, war, wenn sie auf dem kalten Kirchenboden knien mußten. Ihr Verhältnis zur Kirche war ein sehr distanziertes, aber sie ließ mich katholisch taufen.



Lesen Sie nächsten Sonntag hier mehr über diese Berliner Kindheit, nun ungefähr vor 85 Jahren

Redaktion: Frank Becker - © 2011 Musenblätter