Eine Kindheit in Berlin (1)

1914 geboren

von E.G.

E.G. - Foto © Musenblätter
Eine Kindheit in Berlin
(1)
 
Dies sind die Kindheitserinnerungen einer im Kriegsjahr 1914 geborenen Berlinerin, die in den behüteten, wenn auch bescheidenen Jahren ihrer frühen Kindheit, aber auch danach nichts vom Krieg erfahren mußte. Es sind Erinnerungen an eine glückliche Kindheit, in der sie, vaterlos, nur Freundschaft und Liebe erfuhr, was sie bis zu Ihrem Tode prägte. Die Autorin (E.G.) starb 2008 im gesegneten Alter von 93 Jahren. Ihre Erinnerungen, mit deren Aufzeichnung sie 86-jährig begann, hat sie nicht weiter aufschreiben können, doch ist das, was sie aus dem schweren Leben der „kleinen Leute“ im Berlin der Zeit nach dem 1. Weltkrieg und in den ersten Jahren der Weimarer Republik bis dahin zu erzählen wußte, vielleicht für einige Leser interessant. Aus eigener Erfahrung werden sich nur noch wenige daran erinnern können, wie es damals war.

Für die Jüngeren, die sich eine Zeit ohne Fernsehen, SMS, MP3-Player, Laptop, Mobiltelefon, E-Mail, Auto, Markenklamotten, Fast-Food, 3-D-Kino, Fernheizung, Mikrowellenherd und die Überlebensgarantie durch staatliche Leistungen wie Hartz IV etc. kaum vorstellen können, ist es eine Reise in eine unbekannte Welt. Es gab kaum Telefone, und an die Erfindung des Mobiltelefons war gar nicht zu denken. Die ersten Detektor-Radios kamen auf und die zerbrechliche Schellack-Schallplatte für das Kurbel-Grammophon. Im Kino gab es schwarz-weiße Stummfilme und wer jemandem eine Mitteilung zukommen lassen wollte, schrieb einen Brief oder eine Karte. Für den Sonntagsbesuch bei Freunden und Verwandten (Samstag war Arbeitstag), nahm man stundenlange Wege mit der Bahn, dem Bus und zu Fuß auf sich, das Geld war sehr knapp, und man mußte jeden Pfennig zweimal umdrehen.
Doch wir erfahren aus diesen Aufzeichnungen, daß trotz alledem einem behütet aufwachsenden Kind jener Zeit nichts fehlte.

Die Stadt Berlin und die Welt haben sich seither dramatisch verändert. Es gibt heute in Berlin Stadtteile, in denen Deutsch eine Fremdsprache ist und in die sich die Polizei kaum noch mit nur einem Streifenwagen hineintraut, geschweige denn ein einzelner Schutzmann. Gegenseitiger Respekt, Achtung vor Eigentum und Alter, Hilfsbereitschaft und Sicherheit in der Öffentlichkeit sind mit den demographischen Veränderungen ebenso dramatisch zurückgegangen. Umso wichtiger erscheint es, fast 100 Jahre zurückzuschauen, um einen Vergleich anstellen zu können.
 
Wir lassen Sie von heute an für ein paar Wochen in Fortsetzungen mit in diese wenn auch einfache, doch besonnte Berliner Kindheit eintauchen.
 
1914 geboren
 
An einem strahlend schönen, duftenden Frühlingstag des Jahres 2000 wurde die Erinnerung an die blühenden Mandelbäume meiner Kindheit so stark, daß ich mich unter dem unwiderstehlichen Eindruck der in mir auftauchenden Bilder entschloß,  meine Erinnerungen, die Gedanken, Gefühle, Erlebnisse, die mich geprägt haben niederzuschreiben, um meinen Nachkommen ein greifbares Bild meiner Zeit und meiner Person zu vermitteln. 1914 in Berlin geboren, darf ich mich sicher eine  Zeitzeugin des 20. Jahrhunderts nennen.
Da sitze ich also im Jahre 2000 und blicke in Gedanken zurück in das Jahr 1919 (meine früheste Erinnerung), als ich im „Paradies“ meiner Kindheit unter den blühenden Mandelbäumen gespielt habe.


Berlin, etwa 1907 - In der Ladentür stehend die Mutter der Autorin - Foto © Archiv  Musenblätter
 
Dieses Paradies war der Innenhof eines Jugendstil-Mietshauses in Friedenau, im Berliner Westen. Hier wohnte ich mit meiner Mutter und Großmutter in einem kleinen Anbau, einem Häuschen für sich, das umgeben war von alten Bäumen und Rasenflächen, durch die ein Weg vom Vorder- zum Gartenhaus führte, welcher eingesäumt war von eben den Mandelbäumen, die untereinander durch Ranken wilden Weins verbunden waren. Hiervon zweigte ein kleinerer Weg zu unserem Häuschen ab, und an ihm standen ebenfalls 2 Mandelbäume, an deren Blütenzauber ich mich viele Jahre in jedem Frühling erfreute. Wie deutlich doch die Erinnerung noch nach so langer Zeit ist!
 
Wanderungen
 
Meine Kinderjahre habe ich später auch noch an einigen anderen Orten verlebt. Bis zum 4. Lebensjahr wohnte ich jedoch dort in dem kleinen Häuschen, wohlbehütet von meiner Großmutter, während meine Mutti ihrem Beruf nachging, um den Lebensunterhalt für uns zu verdienen. Unsere Situation war folgende: Mein Vater war durch den Ausbruch des 1. Weltkrieges in den USA

Anfang 1915 - Foto © Archiv Musenblätter
überrascht worden, wo er mit meiner Mutter die gemeinsame Zukunft geplant hatte und wohin er Ende März 1914 gereist war. Nach seinen Briefen, die eine Rückkehr nach Deutschland ankündigten, blieb plötzlich jede weitere Nachricht von ihm aus, und er blieb verschollen. Meine Mutti hatte den unvorstellbaren Mut, in dieser damals in jeder Hinsicht schrecklichen Situation trotzdem ihr Kind zur Welt zu bringen, das einzige, was ihr von dem geliebten Mann geblieben war. Nur durch die Hilfe ihrer Mutter, meiner Großmutter wurde ihr das möglich. Als dann meine Großmutter im Nachkriegs-Hungerjahr 1919 plötzlich an einer Lungenentzündung starb, stand meine Mutti vor dem Problem, für mich und sich eine neue Lösung zu finden. Zu ihrem Kummer um den neuerlichen Verlust eines geliebten Menschen kam nun die Sorge um mich.
 
Zum Retter in der Not wurden jetzt meine Tante Roni, Muttis Schwester und ihr Mann, Onkel Arthur, die mich zu sich nahmen. Sie hatten einen Sohn, meinen Kusin Ernst, der nun mein Spielkamerad wurde. So begann für mich ein neuer Lebensabschnitt, ich kam in ein Dorf bei Berlin, Prenden, wo meine Verwandten  Haus und Grundstück hatten.
Soweit ich mich erinnere, war ich als kleines Mädchen schüchtern und akzeptierte alles, was mit mir geschah, als selbstverständlich, wie z.B. die Übersiedlung zu Tante und Onkel. An die Zeit dort habe ich allerdings nur wenige genaue Erinnerungen, aber doch ganz speziell diese eine: um nach Prenden zu kommen, wohin es noch keine direkte Bahnverbindung gab, fuhr man mit dem Zug bis Wandlitz und mußte dann nach meinem damaligen Gefühl „eine endlose Wanderung durch eine Sandwüste machen“. Ich kann mich noch durch diese Wüste stapfen sehen!
 
Kinder
 
Von den Dummheiten, die Ernst und ich zusammen machten, weiß ich nur durch die Erzählung der Erwachsenen. So sprach die Familie noch oft von unserer „Untat“, die wir eines Tages begangen hatten. Zum Haus gehörte ein Gemüsegarten, durch dessen Erträge sich Onkel und Tante in der sehr schlechten Zeit nach dem 1. Weltkrieg etwa besser ernähren konnten. Wir aufgeweckten Kleinen hatten wohl beobachtet, was mit den Gartenerträgen geschah, z.B. daß die Kartoffeln zum Winter im Garten „eingemietet“ wurden, d.h. daß sie in einer großen  Erdgrube im Garten eingelagert und haltbar gemacht wurden. Alles, womit man sich selbst versorgen konnte, war in dieser Zeit Gold wert! Da müssen wir wohl eines Tages gedacht haben, auch helfen zu wollen, anders kann es nicht sein. Jedenfalls wurde meine Tante fast wahnsinnig, als sie in ihren Garten kam und keine einzige Tomate mehr an den Sträuchern hing! Weg! Tomaten, eine Kostbarkeit in diesen Notzeiten! Was war geschehen? Des Rätsels Lösung: wir hatten die grünen Tomaten abgepflückt, ein Loch im Garten gegraben und sie dort für den Winter „eingemietet“! Ich war 4 und  Ernst 5 Jahre alt, liebe Kinder, wirklich!
 
Genau so lieb war es von uns gedacht, als wir eines Tages beschlossen hatten, meine Tante vom Dorffrisör abzuholen, wo sie sich die Haare ondulieren ließ. Ondulieren, werdet Ihr fragen, was ist das? Damals gab es ja noch keine Dauerwelle, und wer von Natur aus nicht mit Locken gesegnet war, ließ sich das Haar mit einer „Brennschere“, die vorher auf einer Gasflamme erhitzt wurde, in Wellen formen. Diese Brennschere bestand aus zwei wellenförmigen Blechen (Größe ca. 6 x 5 cm) – in Scherenform angeordnet – und dazwischen wurden die Haare mit einer Scherenbewegung in Wellen geformt. Das Warten zu Hause auf meine Tante muß uns zu lange gedauert haben. Es war ein heißer Sommertag und wir hatten wahrscheinlich nackt im Garten herumhüpfen dürfen. So splitternackt, von einem Sonnenschirm beschützt, marschierten wir jedenfalls über die Dorfstraße, um meine Tante abzuholen. Ihre „Freude“, als sie uns sah, muß unbeschreiblich gewesen sein. Wie „shocking“ unser Auftreten in jener Zeit war, als noch niemand etwas von Nacktkörperkultur gehört hatte, - dazu noch in einem Dorf! - kann man sich heute sicher nicht mehr vorstellen. Die ganze Reputation war dahin!



Lesen Sie nächsten Sonntag hier mehr über diese Kindheit vor fast 100 Jahren

Redaktion: Frank Becker - © 2011 Musenblätter