Morgen...

...mit schweigendem Auto

von Karl Otto Mühl

Foto ©  Christoph Droste / Pixelio
Morgen...
...mit schweigendem Auto
 
 
Ich stapfe hochgestimmt durch den Wald, den ein leichter Schneefall verzaubert hat. Alles ist überzuckert, jedoch auf dem asphaltenen Radweg und der Straße schmilzt der Schnee rasch. Noch ist er zu zaghaft, um uns tagelang würgen zu können. Aber ich sehe seine weißen Spuren auf Dächern, an Schuppenwänden mit Brennholzstapeln und Lattenbündeln davor, die wie Figuren mit gesenkten Köpfen geduldig und abwartend da stehen. Sie bewahren die Ruhe. Der Winter wird an ihnen vorbeigehen.
 
Ich spüre Heiterkeit.
 
Das Auto läuft nämlich wieder, und das ist, als ob Zahnschmerzen abgeklungen wären. Ich stand aber zunächst ratlos davor, als es beim Anlassversuch keinen Ton von sich gab. Ein Freund kam ohne Verzögerung angefahren und half mir mit seinem Überleitungskabel. Zum ersten Male hatte mich die Batterie im Stich gelassen, aber, was immer der Grund sein mochte, die Kurzstrecken, der Frost, das Alter, jetzt lief das Auto freudig durch die Vorstadtstraßen, und die ganze Welt schien sich mit mir zu freuen. Ich glaube in diesem Augenblick, daß mir nie mehr etwas passieren wird.
 
Dieses Gefühl und dieser Eindruck sind mir immer ein Warnsignal. Denn dann wird es Zeit für mich, daran erinnert zu werden, daß die Welt keine zärtliche Mama, sondern gräßlich ist; voller Qualen, voller Verzweifelter, voller zum Tode Verurteilter. Und nie wollen wir ihr das alles verzeihen, die Hexenverbrennungen, die Kreuzigungen, die Pfählungen, das hoffnungslose Hinsterben Vieler in Sklaverei und Zwangsarbeit – das Elend hat kein Ende. Am besten würde ich mir jetzt schwermütige Musik anhören, Sibelius oder Allan Pettersson. Das wäre heilsam.
 
Solchermaßen wieder in die notwendige Balance gebracht, flüchte ich mich in die Wärme der Bäckerei, wo unser Dreieckstisch schon wieder rundum besetzt ist von wackeren Handwerksleuten. Der Installateur zeigt mir auf seinem Handy die reizvollen Fotos seiner Freundin, sie tauchen später beim Erinnern noch einmal in mir auf.
Ich denke, alle sind sich einig, daß Frauen anziehend sind. Sie bleiben sogar ein Leben lang mit ihnen zusammen. Dabei kann man sie nur  anfassen. Wenn man sie wenigstens aufessen könnte! Was man dagegen alles mit einem Handy machen kann! Tausend Dinge!
Aber der Blick dieser jungen Frau auf dem Foto, dieser erwartungsvolle und vielversprechende Blick, er hat gereicht, den Installateur in die Knie zu zwingen. Und das Bemerkenswerte: anhaltend, nachhaltig. Der Mann hat sich solche Gedanken nicht gemacht.
 
Ich bin bei meiner Werkstatt, bei Marek, vorbeigefahren. Der hat den Ladestrom der Batterie gemessen, war sehr zufrieden, hat mich beruhigt. Danach habe ich das Auto vorübergehend auf einem Stellplatz untergebracht, denn wenige Stunden später muß ich noch einmal fort. Und dann passiert eben das Unerwartete. Das Auto rührt sich nicht. Es schweigt.
 
Ich bin ratlos. Marek irrt sich nie, aber dieses hinterhältige Auto entleert sich sozusagen hinter seinem Rücken. Ich glaube, ich werde den ADAC anrufen müssen. Resigniert wende ich mich zum Gehen, da bringt mich etwas zum Stehenbleiben.
 
Ich höre ein leises, surrendes Geräusch. Ich beuge mich über die Motorhaube – kein Zweifel, da surrt der Ventilator. Es dürfte nicht das übliche Nachkühlen des Motors sein, denn es ist kalt, und ich bin nur ein kleines Stück gefahren. Da ist nichts warm geworden. Wenn aber der Ventilator Tag und Nacht läuft, muß sich die Batterie ja entleeren. Jetzt weiß ich, was ich tun muß.
 
Am nächsten Morgen kommt der zuverlässige Helfer zurück. Wir starten den Wagen mit Hilfe seines Überleitungskabels und ich fahre los, zu Marek.
Marek ist sehr stolz. Was gestern war, ist für ihn vergessen, er zeigt keine Betroffenheit darüber, daß wir diese entscheidende Kleinigkeit übersehen haben. Nun ja, eigentlich konnte man gar nicht auf den Fehler kommen, das sehe ich ein. Der Fehler könnte im elektronischen Steuerungsmechanismus liegen, wahrscheinlich muß ich zu SKODA fahren, sagt Marek.
Aber Marek wäre nicht Marek, wenn er es dabei bewenden ließe. Er fährt den Wagen auf die Hebebühne, läßt durch einen Lehrling die Bodenabdeckung abnehmen und studiert mit der Arbeitslampe in der Hand das Kabelgewirr. Und dann – Nein! Nein! – es ist doch nicht möglich! – und dann entdeckt er an einem Kabel eine blankgescheuerte Stelle. Er umwickelt sie mit Isolierband, und schon hört der Ventilator auf zu surren.
 
Wir blicken uns tief in die Augen. Als ich nach dem Preis frage, sagt er: „Das schenke ich Ihnen.“ Er hat fast eine Stunde gearbeitet.
Als ich leichtbeschwingt davon fahre, merke ich, daß ich zu froh bin, um den Vormittag ohne eine Tasse Kaffee fortzusetzen. Ich steuere in Richtung Stehcafé.
Marek ist gut. Die Welt ist gut. Die Menschen sind gut.
 
Ich merke, es ist wieder Zeit für Sibelius und Pettersson. Aber das erweist bald sich als unnötig: Ich sende eine E-Mail an Marek, frage, wie die technische Bezeichnung des Defekts sei, ich will ja alles im Tagebuch notieren. Aus der Antwort ersehe ich, daß Marek mißtrauisch wird. Er antwortet, das Auto sei ja nun repariert, er habe zu viel zu tun, Christoph, Janek und Darius ständen mit ihren Autos um ihn herum und wollten sofort Hilfe, und ich solle ihn in Ruhe lassen.
 
 
 
© Karl Otto Mühl - Erstveröffentlichung in den Musenblättern 2011
Redaktion: Frank Becker