Vereinfachung im Eisenbahn-Verkehr

Eine Katastrophe

von Hermann Harry Schmitz

Hermann Harry Schmitz

Hermann Harry Schmitz, der ab 1906 in Verehrung des Kollegen Heine seinen zweiten Vornamen führte, gehört zu den wohl am meisten mißachteten und unterschätzten Genies der grotesken deutschen Literatur - und ist zugleich einer ihrer Größten. Der Düsseldorfer Bohemien und Bonvivant, Dichter und Dandy, phantastischer Autor von Gnaden, ein Freund Herbert Eulenbergs und Hanns Heinz Ewers´ hinterließ ein schmales, wenngleich unerreichtes Werk, als er sich 33-jährig erschoß. Herbert Eulenberg hat ihn einmal mit Christian Dietrich Grabbe verglichen, seine Erscheinung mit Figuren E.T.A. Hoffmanns assoziiert. Die Stadt Düsseldorf und die Hermann-Harry-Schmitz- Societät dortselbst bemühen sich redlich, ihn dem Vergessen zu entreißen. Namhafte Literatur-Lexika hingegen ignorieren ihn beharrlich (vgl. Fußnote). Wir hingegen finden, daß Hermann Harry Schmitz ein angemessener Platz in der deutschen Literaturgeschichte gebührt.

Wie wenig sich seit Schmitz an der Effektivität der Bahn geändert hat, wollen sie, verehrter Leser dieser Tragödie entnehmen, wie sie sich 100 Jahre später ähnlich tagtäglich noch immer an deutschen Bahnhöfen abspielt.


Vereinfachung im Eisenbahn-Verkehr

Der Vater will nach Cottbus. Er hat die Fahrkarte Berlin-Cottbus. Die Fahrkarte nützt dem Vater nichts. Der Vater ist ratlos.

Die Fahrkarte gilt für den Eilzug. Der Eilzug ist schon fort. Der Vater will in den Schnellzug steigen. Der Vater darf es nicht. Der Vater weint. ­-
Ein Schnellzug ist kein Eilzug. Wenn man schnell ist, eilt man nicht. Wer eilt, ist nicht schnell. Die Eile ist langsam. Der Vater hat Eile, will mit dem Schnellzug fahren. Das darf er nicht. Der Vater reißt sich ein Büschel Haare aus. ­-

Die Fahrkarte des Vaters hat keinen Längsstrich. Hätte sie einen Längsstrich, so könnte er mit dem Schnellzug fahren. Der Längsstrich ist rot. Der Vater braucht Zuschlagskarten. Es gibt Zuschlagskarten mit breiten Längsstreifen. Der Streifen ist gelb. Der Streifen ist manchmal grün. Der Streifen kann auch braun sein. -

Der Vater geht an den Schalter. Der Vater kauft eine Zuschlagskarte. Der Vater hat einen braunen Streifen. Der braune Streifen nützt dem Vater nichts. Der braune Streifen gilt bis Lübben. Der Vater will nach Cottbus. Der Vater hat in Lübben nichts zu tun. Die Sache geht nicht. Der Vater rennt mit dem Kopf gegen die Wand. -

Der Vater muß eine andere Zuschlagskarte haben. Er braucht einen grünen Streifen. Der Vater will eine Zu­schlagskarte bis Cottbus. Eine Zuschlagskarte bis Cott­bus gibt es nicht. Der Vater muß eine Zusatzkarte bis Schleife kaufen. Der Vater will nicht nach Schleife. Der Vater hätte eine Sammelkarte nehmen müssen. Der Vater hat das nicht gewußt. Der Vater wird tobsüchtig. -


Man bringt den Vater in die Irrenanstalt. Der Vater wird von den Wärtern totgeprügelt. Der Vater kommt in den Himmel. Die Strecke nach dem Himmel ist über 150 Kilometer. Der Vater braucht hierzu keinen roten Längsstrich und keinen bunten Streifen und keine Sam­melkarte. Der Vater frohlockt über diese Vereinfa­chung.


Hermann Harry Schmitz
(1880 - 1913)

1911 "Der Säugling und andere Tragikomödien" bei Kurt Wolff
1914 (posthum) "Das Buch der Katastrophen" bei Kurt Wolff

1966 "Buch der Katastrophen" bei Diogenes
1988 Werkausgabe bei Haffmans

ignoriert von:
- Kindlers Neues Literatur Lexikon
- Metzler Autoren Lexikon
- rororo Autoren Lexikon 20. Jhdt.
- Nymphenburger Lexikon der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur
- Olms Lexikon deutschsprachiger Schriftsteller 20. Jahrhundert
- Harenberg Buch der 1000 Bücher
- Diogenes Autoren Album
- Kröner: Deutsche Schriftsteller der Gegenwart
- Frenzel Daten Deutscher Dichtung
u.s.w....

Redaktion und Einführung: Frank Becker