Ein Tag in der Sommerfrische

Eine Betrachtung

von Victor Auburtin

Foto © Andrea Damm / pixelio.de

Die Sommerferien haben begonnen. Das Reisen ist aller Mahnung zum Trotz wieder zur Massenbewegung geworden. Das liegt auch daran, daß vor allem die Dummen glauben, Anspruch auf das Reisen, vor allem das Fliegen zu haben. Heerscharen jetten in Sandalen und Bermuda-Shorts zu fremden Stränden, und viele Menschen haben den eigentlichen Sinn der Ferien längst vergessen. Exotisch und weit weg soll das Ziel sein und der Urlaub am liebsten eine Dauer-Party. Dabei geht der Blick fürs Wesentliche leider oft genug verloren. Als das Feuilleton noch in Blüte stand, veröffentlichte  Victor Auburtin im „Berliner Tageblatt“ 1921 eine Betrachtung, die ich ihnen ans Herz legen möchte.


Ein Tag in der Sommerfrische


Zehn Uhr morgens. Der Postbote kommt in das Gastzimmer und schüttelt die Regen­tropfen ab. Von der Eisenbahnstation her hat er zwei und eine halbe Stunde durch Feld und Wald marschieren müssen. Er gibt mir die Zeitung und tritt dann an den Schank­tisch, wo schon der Wirt, der Forstgehilfe und der Reiter versammelt sind. Die Herren beschließen, einen kurzen Morgenstehschnaps zu veranstalten. Durch das Fenster, an dem ich sitze und meine Zeitung lese, kann ich auf den Hof sehen; in der Mitte dieses Hofes steht eine Gans, die mich mit ihren gelben Augen unverwandt betrachtet. Dahinter fern der See, schwarz im Regenwinde.

Zwölf Uhr. Ich verzehre an meinem Fenster einen Aal in Dill. Der Aal hat noch heute morgen im See ge­schwommen, und der Dill ist kein Büchsenersatz, sondern frischer grüner Dill. Fräulein Grete hat ihn mir soeben in der Küche lachend unter die Nase gehalten.
Was die Gans betrifft, so steht sie immer an der­selben Stelle im Hofe, doch hat sie mir jetzt ihre hintere Seite zugekehrt. Nach meiner Uhr kann ich zählen, dass sie sechsmal in der Minute mit dem Schwanze wackelt.
Der Postbote aber, der Forstgehilfe, der Reiter und der Wirt haben den Morgenstehschnaps etwas leb­hafter ausgestaltet und erzählen sich ihre Kriegserleb­nisse.

Vier Uhr. Es scheint, dass ich an meinem Fenster ein wenig geschlafen habe. Beim Aufwachen bemerke ich, dass der See jetzt im hellen Sonnenschein glänzt. Du lieber Himmel, da ist ja Aussicht, dass die Fischer doch noch einen Hecht hereinbringen für heute Abend.
Inzwischen hat die Gans sich hingesetzt, weil der Boden schön warm geworden ist. Und ich mache die Beobachtung, dass eine Gans im Sitzen nicht mit dem Schwanz wackeln kann. (Oder nicht wackeln will?)
Der Reiter, der Forstgehilfe, der Wirt und der Post­bote haben sich ebenfalls hingesetzt, aber aus einem anderen Grunde: sie sehen nämlich nicht ein, warum sie ihren Morgenstehschnaps nicht im Sitzen weiter­führen sollten.

Acht Uhr abends. Der Hecht war vorzüglich; ein gebratenes Schwanzstück, fast ohne Gräten.
Nun ist die Gans zu Bett gegangen, und ich beschließe, ebenfalls zu Bett zu gehen; unmöglich abzuwarten, wann der Wirt, der Reiter, der Forstgehilfe und der Postbote mit ihrem Morgenstehschnaps zu Ende sein werden.
In das Schlafzimmer hinein, in dem ich liege, ver­dämmert durch die Vorhänge der selige Tag; und draußen singt der See um alle seine Ufer.
Aber was sind das für Vögel, die jetzt noch auf dem Wasser tätig sind und sich mit klangvollen Lauten rufen? Nun, dem wollen wir morgen nachforschen. Möge ein jeder Tag seine Aufgabe und seine Lehre bringen.


Victor Auburtin (1870-1928) schenkt uns mit diesem im doppelten Sinne zeit-losen Text
eine Einsicht und – noch besser: ein Lächeln.

Redaktion: Frank Becker