Das Maß der Dinge des klassischen Ballett-Tanzes

Das Russische Staatsballett mit "Schwanensee"

von Peter Bilsing
Das Russische Staatsballett
mit einem romantisch wunderschönen

„Schwanensee“
 
Das aktuelle Maß der Dinge
des klassischen Ballett-Tanzes
 
Philharmonie Essen am 27.Dezember 2010
 
Neben einer Vielzahl von privaten Akademien zählen die zwei staatlichen Ballettschulen, die St. Petersburger Akademie für Russisches Ballett und die Moskauer Staatsakademie für Choreographie, wohl zu den berühmtesten Schulen des klassischen Tanzes in Russland überhaupt. Ihre regelmäßigen Tourneen zeigen der Tanzwelt, wo das klassische Ballett heute steht – sozusagen das Maß der Dinge.
 
Ausverkaufte Vorstellungen zu relativ fairen Preisen landauf und landab beweisen die Nachfrage des Publikums und der Tutu-Ballett-Fans nach solchen Ereignissen. Es ist zu beobachten, daß gerade der Bereich der großen Handlungsballette, konträr zu den Publikumswünschen, fast überall vernachlässigt wird. Modernes Tanztheater ist natürlich auch billiger und einfacher umzusetzen, als wenn man 50-60 Tänzer koordinieren muß. An der Rheinoper z.B. ist unter dem neuen, international geachteten Ballett-Chef Martin Schläpfer sogar eine Art Todesurteil gegen die großen Handlungsballette, sehr zum Mißfallen des Publikums, gefällt worden - hier gibt es nur noch Tanztheaterabende. Daher verwunderte es nicht, daß nun in Essen beim einzigen großen klassischen „Schwanensee“ erstaunliche viele Pkw mit Düsseldorfer oder niederrheinischen Kennzeichen gesichtet wurden.
Hat sich die Anreise gelohnt? Unbedingt! Ich ergänze sogar: Für so einen phänomenalen Tanzabend lohnt sich selbst die weiteste Anreise; es sei denn, Sie haben eine Datscha in Moskau. Das Russische Staatsballett bot Weltklasse in Vollendung.
 
Nicht nur hatte man die Essener Philharmonie durch Umbauten in ein Balletthaus verwandelt, mit riesigem samtblauem Vorhang und wunderschön bebilderten aufwendigen Zwischen-Vorhängen, sondern es war auch ein Abend der traumhaften Kostüme – vielen historischen Ballett-Kostümen aufwendig nachempfunden. Genuß ohne Ende schon von der reinen Optik! Jedes einzelne ein Kleinod von erlesener und liebevoller Handarbeit und Güte. Wunderbare Tutus und traumhafte Teller-Tutus der Solistin, welche die Herzen aller Ästheten, Schöngeister, Edeldamen, Burgfräuleins und Schneider hochschlagen ließen. Feinster Tüll, ein Traum von edelster Seide und eine schier unerschöpfliche Farbenpracht, gerade bei den Gesellschaftstänzen im Schloß und den Nationaltänzen, wie wir sie leider nur noch höchst selten in unseren Theatern erleben dürfen.
 
Dazu die klassische Choreografie von Marius Petipa und Lew Iwanow aus dem Jahre 1894. Den beiden genialen Choreographen ist es letztlich zu verdanken, daß „Schwanensee“ unbestritten das beliebteste Handlungsballett aller Zeiten wurde. Heute wissen wir, daß die Uraufführung (1877) unter dem ersten Schwanensee-Choreographen Julius Wenzel Reisinger ein ziemliches Desaster war, denn er hatte, zur großen Enttäuschung Tschaikowskys, keinerlei Zugang zu dem Werk gefunden und behauptete sogar, das Stück sei schlichtweg nicht vernünftig in Tanz umzusetzen. Die Schwäche seiner Choreographie nutzten die Tänzer, um sich selbst mit eigenen Einlagen und Apercus individuell in Szene zu setzen. Es muß furchtbar gewesen sein. Das Werk geriet schon kurz nach der UA in relative Vergessenheit.
 
Wjatscheslaw Gordejews Inszenierung für das Russische Staatsballett hält sich bis in die kleinsten Details so genau wie möglich an die ursprüngliche Version von Petipa und Iwanow. Seine opulente Inszenierung ist geprägt durch das Können, die Professionalität und Leidenschaft seiner blutjungen enthusiastischen Tänzerinnen und Tänzer.
 
Mag man auch darüber streiten, ob wir einen „Schwanensee“ in Originalchoreografie wirklich heute brauchen, so muß der Kritiker doch festhalten, insbesondere nach Genuß von unzähligen Überarbeitungen und höchst unbefriedigenden Neufassungen (so letztlich noch in Essen), daß eben die tänzerischen Ansprüche der Original-Choreografie doch enorm sind. Technisch ist vieles nahezu der blanke Wahnsinn; seien es die vielfältigen gehüpften Arabesquen, die Drehungen auf Spitze oder die Vielzahl der schwerelosen Sprünge. Alle Hebefiguren sind in der alten russischen Tradition natürlich vorhanden, und wenn das „pas de quattre“ endlich einmal wirklich absolut synchron getanzt wird, dann bleibt dem Publikum der Mund vor Erstaunen und Bewunderung fast offen stehen, und wir sehen in den Augen der Tänzerinnen die ungeheure Anstrengung und Konzentration diese quasi Zirkusstücks.


© Russisches Staatsballett
 
Weiter mit in höchster Brillanz auftretenden 16 Schwänen in perfekten Transversalen und Zirkeln, oder ein Schwarzer-Schwan-Pas-de-Deux von atemberaubender Finesse, das Anna Sherbakova so filigran tanzt wie einst die legendäre Pavlova, bis hin zum traumhaften vitalen Rotbart von Vladimir Mineev, der die Schwerkraft aufzuheben scheint. So muß das klassische Ballett-Paradies aussehen! Schöneren, überwältigenderen und begeisternderen Tanz haben wir selten gesehen.
 
Am Ende gab es frenetischen Beifall von einem enthusiastischen Publikum, welches nicht nur beglückt und fröhlich nach Hause fuhr, sondern auch jenes Glücksgefühl in Vollendung erleben durfte, welches sich Tschaikowsky für sein großes Ballett wohl immer gewünscht hat. Ein Abend des ganz großen Tanzes, der uns alle in eine zauberhafte Tanzwelt förmlich hineinsog, wie wir es in den kühnsten Träumen nicht erwartet hätten. Seelenbalsam höchster Güte und Qualität in einer doch gelegentlich so schlimmen Welt. Was für ein Abend. Kaum noch sieht man klassisches Ballett in solcher Vollendung. Bravi!
 
Redaktion: Frank Becker