9. November 1938 (1)

Wej de Tant Sarah äam Nöötshimmed off der Mescht dröm röm gelaaf äas

von Rudolf Engel
9. November 1938 (1)
 
In einer Zeit in der wert- und inhaltslose „Erinnerungen“ und peinliche Selbstdarstellungen aus der Show-Welt den Markt mit der Halbwertzeit eines Lidschlages überschwemmen ist ein Buch wie das des im saarländischen Merzig geborenen Bildhauers und emeritierten Hochschulprofessors Rudolf Engel eine wenn auch teils schmerzliche Oase in einer schrecklichen Wüste.

„Dreimal »Heim ins Reich« und zurück“ hat er seine Erinnerungen überschrieben, die packend das prägende Jahrzehnt von 1935-1945 im Leben des saarländischen Jungen und zugleich einen Deutschland und die Welt verändernden historischen Abschnitt aus der Sicht eines Kindes schildern: „Reichskristallnacht“, Hitlerjugend, Kinderlandverschickung, Krieg und Alltag. Es ist eines der persönlichsten und facettenreichsten Bücher dieses Genres aus den letzten Jahren.
In der Nacht vom 9. zum 10. November 1938 wurden in Deutschland jüdische Gotteshäuser geschändet, deutsche Mitbürger jüdischen Glaubens gequält, beraubt, entrechtet, gar getötet. Wir können mit Erlaubnis des Autors zu diesem schrecklichen Datum erschütternde Auszüge seines Buches veröffentlichen. Rudolf Engel lebt jetzt in Baden-Baden.
 
 
Wej de Tant Sarah äam Nöötshimmed off der Mescht dröm röm gelaaf äas
 
Die Überschrift zu der folgenden Geschichte „Wie die Tante Sarah im Nachthemd auf dem Misthaufen umhergelaufen ist“ klingt zunächst lustig; es handelt sich jedoch im Gegenteil um das traurigste und erschütternste Erlebnis meiner damit vielleicht zu Ende gegangenen Kindheit.
An jenem dunklen, ziemlich frostigen Novembermorgen war ich allein unterwegs vom Zollhaus "iwer de Mill", durchs Dorf zur Kirche, zur Schulmesse...Der gerade Siebenjährige hatte sich wie immer, wenn er Meßdienst hatte, kurz nach sechs von Mama Lisa wecken lassen. Um rechtzeitig in der Sakristei zu sein, mußte noch ein langer Weg zurückgelegt werden. An diesem Morgen verließ er zwar pünktlich das Elternhaus, kam auch zügig an der Siedlung vorbei; sonst aber stimmte nichts mehr am Ablauf des weiteren Tagesgeschehens. Weder war die lange Dorfstraße so dunkel wie sonst, noch kam ich an diesem Morgen rechtzeitig zur Messe; ich kam überhaupt nicht zur Messe...
 
Hatten wir Kinder bis dahin aus gutem äußeren Anlaß und tiefem inneren Glauben das beruhigende unhinterfragte Bewußtsein, die ganze Welt sei, so wie wir sie täglich zwischen Weihnachten und Pfingsten, zwischen Eintopfsonntag und Erntedankfest erlebten, diese Welt also sei völlig in Ordnung, denn ganz unter der Gnade und dem Segen Gottes und ebenso recht nach den Weisungen und Befehlen unseres „Führers“; an diesem Dienstagmorgen erfuhr ich in meiner kindlichen Einsamkeit auf erschreckendste Weise, daß es zwischen Mensch und Mensch und vielleicht auch zwischen dem lieben Gott und der "Vorsehung" einen Unterschied geben sollte. Denn das Unbegreifliche, was ich sah, hörte und in meiner verstörten Seele empfinden mußte, paßte überhaupt nicht mehr in die Grenzen der bisher gewohnten Ordnung.
Als ich von der Siedlung aus drüben in der Nähe vom Koschter Bäcker den hellen Schein zwischen den Häusern sah, bin ich neugierig geworden und so schnell ich konnte den Miller Berg hoch gelaufen. Und oben angekommen, fiel mir schon von weitem auf, daß ein Haus in der sonst um diese Zeit so dunklen Hausbacherstraße in seinen beiden Etagen hell erleuchtet war. Je näher ich kam, desto mehr sah ich Einzelheiten, deren Ursachen ich mir nicht erklären konnte:
Als hätte es im Innern dieses kleinen, ziemlich schmalen Hauses eine gewaltige Explosion gegeben, derart war das ganze Inventar, waren Tisch und Stuhl entzwei, Geschirr und Wäsche in Fetzen und Scherben, und all die schönen neuen Schuhe aus ihren Schuhschachteln gerissen und vom kleinen Laden hinausgeschleudert. Aus der darüber liegenden Wohnung waren alle Kleinmöbel, alles Porzellan, sogar die Federbetten, völlig aufgeschlitzt, durch die zertrümmerten Fenster teils auf den schmalen Vorhof, teils auf den Misthaufen davor, teils bis auf die Straße verstreut...Und zwischen all dem zerstörten Gerümpel einsam und wimmernd eine offensichtlich von dem Überfall völlig überraschte, nur im dünnen Nachthemd bekleidete, eine gänzlich verstörte alte Frau, in der ich die liebe Tant Sarah erkannte...
 
Ich kann mich zwar nicht erinnern, daß wir jemals bei Tant Sarah unsere Schuhe gekauft hätten. Wahrscheinlich waren die aus ihrem Laden wesentlich vornehmer und teurer als die vom Baltessen Schouschter. Aber keiner in der Familie meiner Mutter, den Bergersch, und in der Familie meines Vaters, den Lieschers hatte je etwas gegen diese Leute, bei Gott nicht; alle redeten immer nur Gutes über unsere jüdischen Dorfbewohner. In den Aufzeichnungen meines Vaters über seine Kindheit heißt es dazu an einer Stelle:
"Wir mußten, wenn wir zur Kirche oder zur Schule gingen, immer am Haus der Großeltern vorbei. Aber wir gingen selten vorbei, ohne noch schnell hineinzuspitzen. Da gab es dann immer etwas, entweder eine Schmier oder sonst was. Neben unsern Großeltern wohnten Juden, es waren Handelsjuden. Da ging ich immer hin, in den Stall oder ans Fenster. Von den Juden bekamen wir Kinder dann immer, wenn die Osterzeit war, Matzenkuchen, das sind die ungesäuerten Brote, welche die Juden während des 40-tägigen Fastens essen müssen. Wenn sie den Matzen leid waren, so nach acht oder zehn Tagen, dann bekamen wir ihn. Als wir schon größer wurden, mußten wir etwas dafür tun: Die Juden durften ja am Sabath nichts arbeiten, nicht das Geringste, und da waren die streng drin! Dann mußten wir ihnen den Ofen schüren oder das Licht an- und ausmachen, das durften die alles nicht tun. Auch in die Synagoge ließen sie einen ausnahmsweise hinein, um die Kerzen auszumachen. Neben der Synagoge stand ein Birnbaum. Da haben wir uns manchmal davon geholt. Die schmeckten sehr gut und sehr süß."
 
Obwohl wir also nicht bei Sarah kauften, kannten wir die freundliche Dame gut; wie hätten wir sie sonst "Tant Sarah" genannt. Sie selbst hatte keine Kinder, aber sie hielt uns öfter an, wenn wir an ihrem Haus vorbeiliefen, und meistens steckte sie uns ein süßes Gutzjen zu...
Die Männer in den braunen Hemden und schwarzen Hosen, führten sich bei allem, was in dieser Nacht, an diesem Morgen geschehen ist,  so laut und rechthaberisch auf und taten so auffällig wichtig beim Zusammenschlagen der Möbel, beim Zerreißen des Bettzeugs und Umherschleudern des neuen Schuhwerks und auch beim breitbeinigen Wachestehen vor der weit aufgerissenen Haustür.
Diese Männer machten mir derart Angst, und der schreckliche Anblick der Verwüstung ließ mich so erstarren, dass ich einfach nicht mehr das tun konnte, was ich in diesem Augenblick tun wollte: zu der armen Tant Sarah gehen und sie einfach fest bei der Hand halten. Ich konnte auch nicht begreifen, dass sie in ihrem Elend bei den braunen Männern nicht einen Schimmer von Mitleid erregte, wie sie so spärlich im bloßen Nachthemd bekleidet auf dem schmierigen Misthaufen umhertippelte und zwischen all ihren Sachen umherirrte nicht laut weinend, nur elendiglich wimmernd.
Und ihr alter gebrechlicher Mann, der ist da an der Hauswand, auf seinen Stock gestützt, mit seinen zittrigen Beinen gestanden. Den Alten hatten wir kaum gekannt; er war nie nach draußen gekommen; muß wohl schwer an Gicht gelitten haben. Jetzt, da dies alles passiert ist, da ist er also wie versteinert, tief gebückt und auf seinen Stock gestützt, in sich eingesunken an der Hauswand gestanden, die Augen weit aufgerissen und ins Leere starrend.
Ab und zu wurde er von den wichtig tuenden Braunhemden wie aus Versehen im Vorbeieilen angerempelt; dann wackelte er ein wenig, so wie man einen Holzstumpf anstößt; aber er ist  nicht umgefallen. Und die Tant Sarah ist immer noch ganz verstört auf dem Misthaufen umhergestakst, hat in ihren Sachen herumgestochert und immerfort für sich dahingestammelt:
"Oh gödöh, oh gödöh!  Wat hun mir dann nur verbrooch?"
Ja, was hatten sie schon verbrochen, und wie hätte ich kleiner Junge ihnen auch helfen können, ohne zu begreifen, was hier eigentlich gespielt wird. In diesem Augenblick, an dem ich vor purem Entsetzen nicht mehr merkte, daß die Glocken schon längst für die Schulmesse zesumme gelaut hatten, jetzt stand der arme alte Mann immer noch da draußen im Lichtkegel des Chaos, regungslos wie ein Standbild des Propheten Moses, den Buckel noch weiter vorgebeugt, beidhändig auf seinen Stock gestützt. Auch er hatte offensichtlich noch nicht begreifen können, was hier geschehen war, denn die Züge seines herabgesunkenen Gesichtes blieben verzerrt und regungslos, und die weit geöffneten Augen starrten über die Haufen der zerstörten Habseligkeiten hinweg in eine unendliche Ferne.
Seine Frau Sarah aber, deren leichtes Nachthemd und aufgewickeltes, langes Haar zu ihren heftigen Hin- und Herbewegungen eifrig im Winde mitwehten, Sarah irrte immer noch wimmernd in dem Gerümpel umher, als ob sie einen Anfang suchen müßte, um die schon vollendete Zerstörung noch nachträglich aufzuhalten.
Damit aber verwischt sich das eigentlich unbeschreibliche Bild in meinem Gedächtnis...Ich kann mich auch nicht erinnern, Tant Sarah und den greisen Moses nach diesem Morgen je wieder gesehen zu haben.
 

Lesen Sie morgen Teil 2 der Erinnerungen von Rudolf Engel an die Pogromnacht 1938.