Hänsel und Gretel im Gabelwald

Wunderbare Interpretation des Grimmschen Märchens in Gelsenkirchen

von Peter Bilsing
Essen oder gegessen werden
Hänsel und Gretel im Gabelwald
 
Wunderbare Interpretation
des Grimmschen Märchens im neuen Gewand
 Premiere am 31.10.2010
 
Wunderbares muß ich Euch melden: Es gibt sie doch, die phantasievolle, dennoch kitschlose, farbenprächtige, werktreue und zeitgemäß moderne „Hänsel und Gretel“ -Interpretation. Spannend, witzig und nicht ohne Hintersinn präsentieren Michiel Dijkema (Inszenierung und Bühne) sowie Claudia Damm (Kostüme) In Gelsenkirchen eine Produktion, die sich sehen lassen kann, vor allem im Einheitsgrau der konkurrierenden, meist langweiligen Inszenierungen der NRW-Nachbarhäuser.
 
Weg von den üblichen Märchen-Klischees
 
Schon die Optik stimmt, und sie stimmt fröhlich. Geradezu eine bunte Kostüm-Orgie wird bei den
Figuren gefeiert, wobei sehr genau auf die feinen Unterschiede der Charaktere angespielt wird. Da ist zum Beispiel der verlotterte Vater (Björn Waag), ein Alkoholiker mit gelegentlichen Lichtblicken in blauer altmodischer Adidas-Trainingshose und mit buntem Parka, während seine Frau (Noriko Ogawa-Yatake) mit „dezenten“ Lockenwicklern die sprichwörtliche Hose an hat und sie modisch aktuell als Militär-Beinkleid über dem Küchenpyjama trägt. Hänsel (Almut Herbst) im ausgebleichten lila T-Shirt trägt auf seiner Patchwork-Jeans u.a. das Anti-Atomkraft-Symbol, während Gretel (Alfia Kamlova) buntes Selbstgehäkeltes bevorzugt; beide haben auch ihre Haare koloriert, vom Punkeransatz bei Hänsel zur farbensträhnigen Vielfalt bei Gretel. Bunt und fröhlich, wie die Charaktere. Beide singen und agieren als wahre Energiebündel zur Freude des Publikums, dabei wird ihnen auch artistisch einiges abverlangt.
 
Die Regie zeichnet die Hauptfiguren fernab aller gewohnten Klischees endlich einmal natürlich, so wie Kinder eben sind - besonders schön zu sehen bei den bekannten Kinderliedern, wie z.B. „Brüderchen komm tanz mit mir…“ Hier wird weder diskogehampelt, noch der übliche linkes-Füßchen-über-rechtes-Füßchen-Quatsch wiederholt. Auch dürfen die beiden sich gelegentlich mal richtig hauen und treten, wie unter Geschwistern üblich. Wie soll sich die kleine schwache Gretel auch gegen die Frechheiten ihres großen Bruder anders wehren, während sie im Wald dann doch die sichere Schlafmöglichkeit hinter seinem breiten Rücken sucht.
 
Alptraum-Wald und Höllen-Backmaschine
 
Stichwort: Wald. Natürlich ist dieser Wald heuer kein Wald mehr. Der ist schon lange gestorben. Das Regieteam übernimmt eine Sequenz aus dem ersten Akt, wo beide Kinder die gesamte
Besteckschublade leeren und Hänsel angesichts mangelnder Nahrung alle Messer sowie Gabeln in die Tischplatte rammt.
Im zweiten Akt tauchen diese dann übermächtig groß, geradezu alptraumhaft wieder auf. Ein Wald von gigantischen Gabeln und Messern, deren Griffe wie Baumstämme in den Himmel ragen - was für eine fulminante Idee. Essen oder gegessen werden - das ist hier schon die vorweg genommene Frage. Schön auch der Einfall, statt nichtssagend grinsender Engel eine Truppe von Kirchenheiligen aufmarschieren zu lassen: die 14 Nothelfer mit ihren Reliquien, von A wie Achatius über C wie Christophorus bis V wie Vitus tauchen gespenstisch aus dem Nebel auf. Die heilige Barbara trägt sogar fröhlich ihren Kopf unter dem Arm. Eine pfiffige Lösung des vieldiskutierten üblichen Kitsch-Finales.
 
Im dritten Akt sind die Süßigkeiten dezent in bunte Pakete verpackt, die das große Hexenhaus bilden, aus der eine riesige Back-, Zerhack-, Knet- und Mischmaschine fährt. Wir ahnen schon, wer oben in den Trichter mit dem dicken gelben Pfeil hineinfallen wird. Und es wird in der Tat ein tolles Spektakel, wenn die Maschine ratternd anfährt, viele bunte Lampen leuchten, Flammen züngeln und das Höllengerät abrupt wieder stehen bleibt. Nanu? Nach kurzer Überprüfung stellt die famose Hexe (fantastisch William Saetre, als eine Mischung von Geschäftsfrau und später Hella von Sinnen) fest, daß ein simpler Teddybär die Mechanik blockiert hat.
Die Geschichte endet, eine Verneigung vor Wilhelm Buschs Max und Moritz, mit einer wunderbar gebackenen riesigen Lebkuchenfigur der Hexe. Doch traut auch Regisseur Dijkema selbst dem allzu aufgesetzten Happyend nicht, denn während des fröhlichen Hurra-Schlußgesanges fährt langsam die Bühne hoch, und aus der Unterbühne quellen, schon die Geiferfinger ausstreckend, zig neue Hexen mit roter Perücke und sichtbarer Vorfreude auf frische Beute. Ein überraschender, raffinierter Schluß.
 
Wagner? Humperdinck!
 
Johannes Klumpp, erster Kapellmeister, brilliert mit einem Humperdinck in gewaltigem Wagner-Sound. Da bei allen Vorspielen die Vorhänge unten bleiben, zwingt er das Publikum zu
konzentriertem Zuhören. Hören wir Meistersinger pur, oder ist es eher eine Metamorphose des Parsifal? Jedenfalls ist es ein unerhörter Humperdinck, der sich da vor uns aufbaut. Durch die Betonung von Nebenlinien, den Verzicht auf jegliche Glättung und Harmonisierung beweist der Ausnahmedirigent, wie modern dieser Komponist, trotz allem Wagner-Epigonentum, doch ist. Das Orchester folgt, bis auf den anfänglichen Bläserschmiß, danach praktisch fehlerlos. Eine tolle Leistung - wer dieser Interpretation aufmerksam lauscht, versteht, warum Johannes Klumpp nicht nur mit Preisen geradezu überschüttet wurde, sondern auch als eines der größten Nachwuchstalente gilt.
 
Witzig auch die Idee, die Produktion und das komplette Theater in Gestalt eines großen Merchandising-Projekts zu präsentieren. Überall kann man original Knusperhexenprodukte kaufen - vom chicen T-Shirt über Buttons, Tassen, Kappen bis hin zu wirklich leckeren Edellebkuchen wird an Ständen von Bauchladen-Verkäuferinnen alles angeboten. Also bitte diesmal hungrig ins Gelsenkirchener Prachtopernhaus fahren und die Lebkuchen sowie eine richtig tolle Aufführung möglichst im Familienkreis genießen. Schöner und unterhaltsamer kann man die Vorweihnachtszeit kaum verbringen. Es war - abgesehen von meinem Postscriptum - ein beeindruckender Abend. Jugendfrei ab 4 Jahre!
 
Fotos: Pedro Malinowski, Musiktheater im Revier
 
 

Postscriptum: Seit Jahren gehe ich nicht mehr gern ins Kino, jedenfalls nicht in die vielbesuchten Abendvorstellungen. Ich habe nämlich keine Lust, mir die laut geäußerten dummen Sprüche, Begleitkommentare oder andere störende Reaktionen von irgendwelchen Idioten aufzwingen zu lassen, die ebenso wenig Hirnschmalz haben, wie sie gleichzeitig eine mangelhafte Kinderstube unter Beweis stellen. Von Empathie und Rücksichtnahme auf andere will ich gar nicht erst reden – hier herrscht egozentrische Rücksichtslosigkeit, meist noch akklamiert von gleichgesinnten Dummköpfen.

Leider sind neuerdings auch im MiR ähnliche Unsitten zu beobachten. Gerade bei Premieren präsentiert sich eine neue Form von übel störender Claque. Ob Hausmitglieder oder Angehörige, was zu eruieren sei, jedenfalls wird zu Auftritten störend sinnlos applaudiert oder es wird gepfiffen und gejohlt, ohne für die Theaterbesucher erkennbaren Grund. Da es die anderen Besucher sowie den musikalischen Ablauf erheblich stört, dürfte dieses Phänomen für die Theaterleitung nicht mehr zu ignorieren sein. Wo sind Türsteher, die solche Flegel zur Ordnung rufen und einen störungsfreien Ablauf der Opern garantieren? Warum läßt sich das Publikum solche Frechheiten gefallen? Derartiges Pöbelvolk gehört vor die Tür gesetzt!