Der Bordellbesuch

Erzählung

von Hermann Schulz
Der Bordellbesuch
 
Ein Mann, schüchtern und beunruhigt von der Sehnsucht seiner kaum zwanzig Lebensjahre, unternahm Anfang der 60er Jahre eine abenteuerliche Reise, die ihn in fast alle Länder des Vorderen Orients führte. Er verfügte über sehr wenig Geld und ihn traf das Unglück, daß er in Beirut gefährlich erkrankte und sein restliches Geld bis auf einen Zehndollarschein verlor. Er hauste einige Tage lang in den vom Meer ausgewaschenen Höhlen am Strand und ernährte sich von trockenem Brot und Früchten.
 
Als er wieder einigermaßen sicher auf den Beinen war, machte er sich per Anhalter auf den Weg in die Türkei, wo er Freunde hatte und hoffte, Hilfe in seiner bedrängten Lage zu finden. Nach drei Tagen erreichte er die Stadt Aleppo im Norden Syriens und ging, da keine Fahrgelegenheit in Sicht war, zu Fuß zur türkischen Grenzstation, die er vier Monate früher in Gegenrichtung schon einmal passiert hatte. Er erinnerte sich bitter der Mahnungen der türkischen Zollbeamten, doch in der Türkei zu bleiben, hier sei er bei zivilisierten Menschen. Bei den Arabern dagegen würde es ihm schlecht ergehen.
 
Im Morgengrauen, nach einem Fußmarsch von acht Stunden, erreichte er die Grenzstation. Die Beamten erkannten ihn sofort wieder, beklagten sein erbarmungswürdiges Aussehen, erinnerten ihn an die erteilten Mahnungen und erklärten, er müsse zunächst einmal zu Kräften kommen. Sie wiesen ihm einen Raum zu, der als Lager für einige Säcke Datteln benutzt wurde, und schlugen dort ein Klappbett auf. Der junge Mann schlief bis zum Abend, als ihn Musik weckte. Die Grenzer hatten einen langen Tisch mit Speisen erlesener Art gedeckt, ihre Frauen und Kinder herbeigeschafft, einen Musiker verpflichtet und es begann ein Fest zur Feier der Rückkehr des unbelehrbaren Deutschen aus den Händen der unzivilisierten Araber.
 
Nach drei Tagen war der Reisende, dem es schon nicht mehr wirklich schlecht ging, auch nach ihrer Meinung zu Kräften gekommen und durfte weiterziehen, um nach Ankara zu kommen. Sie ermahnten ihn erneut zur Vorsicht und verpflichteten einen durchreisenden Personenwagen, ihn mindestens bis zur Hafenstadt Iskenderun mitzunehmen. Sie füllten ihm die Taschen mit Brot, Käse  und Datteln und rieten ihm, in Iskenderun zum Bahnhof zu gehen und den Stationsvorsteher namens Rasi zu bitten, ihn in einem leeren Eisenbahnwaggon schlafen zu lassen. Rasi würde auch dafür sorgen, daß er auf einem Frachtzug kostenlos nach Ankara reisen könne, da seien sie ganz sicher, er solle sich nur auf sie berufen.
 
Im Auto fuhren ein Libanese -  ein Freimaurer auf dem Weg nach Paris - und ein Türke, der im Libanon arbeitete und seinen Urlaub in seiner Heimatstadt Konya verbringen wollte. Der Deutsche verfolgte kaum ihre Gespräche, die sie auf türkisch führten. Er saß auf dem Rücksitz und las ein Reclam-Heft, wie er immer eines mit sich führte, da sie bequem in der Hosentasche unterzubringen waren.
In Iskenderun angelangt, fragten ihn die beiden Herren, wo er zu bleiben gedenke, es sei nun fast Abend, man werde hier übernachten. Sie errieten, daß er über kein Geld verfügte und boten ihm an, ihr Hotelzimmer mitzubenutzen. Sie baten den Wirt, ein Klappbett aufzustellen und luden ihn ein, mit ihnen zu Abend zu essen.
 
In den wechselnden Situationen von Abhängigkeit, Entgegenkommen und unerhörten Freundlichkeiten wuchs die Schüchternheit des jungen Mannes. Es bedrückte ihn, daß er es ihnen kaum jemals würde entgelten können. Er würde, so schwor er sich, später einmal ein Muster an Großzügigkeit sein.
 
Nach dem Essen, es war bereits dunkel, ließen die beiden Reisenden eine Pferdedroschke vorfahren. Sie waren in heitere Gespräche vertieft, von denen der Fremde nur Bruchstücke, nicht aber den Zusammenhang mitbekam.
 
Die Droschke hielt in einer Straße am Rande der Stadt. Es war, obwohl schon Abend, immer noch sehr heiß. Der Stadtteil war fast unbeleuchtet, viele Männer flanierten zwischen Bars und Teestuben. Vor dem Tor eines Gebäudes stand eine Traube von Männerleibern vor einem Guckloch aus Maschendraht. Die beiden Reisenden mit ihrem deutschen Gast drängelten sich vorbei und betraten  nach einem kurzen Wortwechsel mit dem Türsteher einen saalartigen Raum.
 
Es war hell. An den Wänden standen gepolsterte Bänke und Sitzkissen sowie kleine Tischchen, um Teetassen und Aschenbecher abzustellen. Die Lampen waren mit Perlen und Papiergirlanden geschmückt. Vielleicht dreißig Frauen,  bekleidet nur mit Büstenhaltern und Höschen, saßen allein oder in Gruppen. Einige waren in Gesellschaft von Männern und unterhielten sich leise.
 
Der Libanese fragte den Deutschen, ob er eine der Frauen haben wolle, er sei selbstverständlich eingeladen. Dieser aber lehnte dankend ab, er sei doch noch nicht wieder ganz auf den Beinen, sie sollten sich nicht stören lassen, er würde hier - und er wies auf einen allein stehenden Stuhl - auf sie warten. Er habe zu lesen dabei, sie sollten sich am besten gar nicht um ihn kümmern. Er setzte sich, zog seine Iphigenie aus der Tasche und las, während seine Freunde mit den ausgewählten Frauen in den hinteren Räumen verschwanden.
 
Hin und wieder trat eine der Frauen an ihn heran, um ihm Angebote zu machen. Er lehnte freundlich ab, akzeptierte aber dankend den Tee, den sie ihm brachten, und las, um Konzentration bemüht, weiter. Er vertiefte sich aber nicht so sehr in seine Lektüre, daß er nicht einige Details, zum Beispiel eine große Tafel wahrgenommen hätte. Dort waren die  Herrlichkeiten der Liebeskunst wie auf einer Speisekarte mit den jeweiligen Preisen dahinter aufgeführt. Das Angebot schloß mit der lakonischen Bemerkung, Studenten und Soldaten hätten nur halbe Preise zu bezahlen. Unterschrift: Der Bürgermeister.
 
Dann geschah, daß er die Kontrolle über sich verlor.
 
Über seinem Stuhl, unmittelbar über seinem Kopf, war ein kleines Bord, ein Holzbrettchen, angebracht, auf dem ein Radio stand. Es spielte türkische  und arabische Musik. Nachdem seit ihrer Ankunft vielleicht fünfzehn Minuten vergangen waren, unterbrach ein Radiosprecher das Programm und, völlig unerwartet, sang mit seiner klaren Stimme Freddy Quinn, ein Schlagerstar der 60er Jahre, das Lied "Die Gitarre und das Meer".
 
Da war es um seine Fassung geschehen. Er hatte seit Monaten kein deutsches Wort mehr gehört, keinen Brief bekommen, war krank und einsam gewesen und durchaus Gefahren  ausgesetzt, abhängig von der Freundlichkeit fremder Menschen. Durch das sentimentale Liedchen brach ein Damm in seinem Innern, er schlug die Hände vors Gesicht und weinte ein bißchen; es waren Schmerz und Glück zugleich, so als würde ihm hier an diesem verlassenen Ort die Sehnsucht selbst in Tönen und Worten begegnen.
 
Die Prostituierten umstanden ratlos den weinenden Mann. Eine strich ihm sanft und schüchtern übers Haar; als er es geschehen ließ, kniete sie und zog seinen Kopf an ihre Brust. Nun näherten sich auch die anderen, umarmten ihn, streichelten Hände, Gesicht und Schultern und redeten tröstend auf ihn ein. Es war, als würden sie ihre Liebe nur zu gern verschwenden, als sei dies auch für sie der Augenblick, ihr Bestes zum Leben zu erwecken und der Welt zu zeigen.
 
Als der Libanese und der Türke aus den hinteren Räumen zurückkamen, war die Orgie der Tröstung noch in vollem Gange. Sie erkannten unter dem Knäuel von Frauenkörpern kaum ihren Gefährten, der hier Zärtlichkeiten genoß, die mit Geld nicht zu kaufen sind.



© Hermann Schulz - Erstveröffentlichung in den Musenblättern 2007