Mit einem Cousin im Museum

von Karl Otto Mühl

Foto © Frank Becker
Mit einem Cousin im Museum
 
Ich traf mich mit meinem Cousin, der, obwohl wie ich gealtert, manchmal so gar übermütig, aber immer betriebsam, weiterlebt. Er ist der einzige noch lebende Verwandte, mit dem ich eine gemeinsame Vergangenheit habe, darum bleibt er so kostbar für mich wie ein Solitär.
 
Das ist der Kern meiner Empfindungen von jenem Tag, als wir tief im Bergischen in der Mittagshitze in einem Biergarten zusammen aßen. Dieser Kern sagt, hier sitzen nicht nur wir  Zwei, hier sitzen Dutzende von Generationen vor uns, aus deren Fleisch wir gemacht sind, deren Laster und Fähigkeiten wir geerbt haben, deren Lebenshorizont wir zu ahnen glauben – die Dienstmagd, die unehelich gebiert, der Metzgergeselle, der Schuhmacher, der Kunstmaler, der Maschinenschlosser, das Kindermädchen, die Packerin – und im Hintergrund primitive Dörflichkeit; aber alle blicken uns aufmerksam an und sagen: Ihr gehört zusammen wie das Kind zur Mutter. Und sie sagen auch, wir sind da, und Ihr mit uns, und darum seid Ihr in dieser schweigenden Mittagsstille für eine Stunde herausgenommen aus der Vergänglichkeit.
 
Es folgte ein Rundgang durch ein nahes Kunstmuseum, in dem wir die einzigen Besucher waren. Das Licht flutete durch die Räume, die aufmerksamen Blicke des Personals folgten uns.
 
Der Abschied geschieht wie jedes Mal in Hast. Ich halte vor einem Bahnhofseingang, eine trockene Bemerkung, er nimmt seinen Rucksack und steigt aus. Er fährt zurück in seine Heimatstadt, wo er als einziger Mieter allein im Dachgeschoß eines Hauses an einem Flußufer lebt. Er ist sein Leben lang allein geblieben.
 
Ich fahre nach Hause. Alle sind ausgeflogen bis auf Oma, neunundneunzig, die man für eine Stunde allein gelassen hat. Sie sitzt im Garten und liest die Süddeutsche.
 
Oma interessiert sich für die Fußball-Weltmeisterschaft, aber sie mag nicht ein ganzes Spiel lang in den Fernseher gucken. „Schau mal“, sagt sie, „ich lese hier gerade einen zusammenfassenden Artikel in der Süddeutschen. Kann ich euch nachher berichten. Ist vielleicht übersichtlicher.“

Vor längerer Zeit hatte Oma mal eine kleine Absence, als sie auf der Eckbank saß. Sie sank zur Seite; ich glaube, unsere Tochter fing sie auf.
Oma öffnete die Augen und sagte: „Das war nur zur Probe“.



© Karl Otto Mühl - Erstveröffentlichung in den Musenblättern 2010