Meine zirzensische Phase

Erinnerungen

von Eugen Egner

Foto © Frank Becker
Meine zirzensische Phase
 
Ich prügelte mich mit Trappern, soff mit den Indianern in der Reservation und tat den Barfrauen schön. Wie lustvoll war ich bei der Sache! Wie unverknüpft mit dem Denken war mein Handeln, wie dumpf, tierisch-wahllos und leicht befriedigt mein Triebleben. Oft genug erwachte ich an mir unbekannten Orten mit getrocknetem Eierlikör oder Zimt in meinen Haaren. Die Stiefel mußte ich mir von den Füßen schneiden. Es wurde sogar notwendig, daß ich im Drugstore mit fester Stimme ein probates Mittel gegen Filzlausbefall verlangte. Kaum waren die Läuse besiegt, stürzte ich mich schon wieder in den Unrat. Gewiß hätte ich ein Ende genommen wie E.A. Poe, wenn nicht meine indianischen Zechbrüder Anstellungen bei verschiedenen Zirkussen gefunden hätten. Sogenannte »Völkerschauen« waren damals beim Publikum sehr beliebt, sodaß ganze Stämme zum Zirkus gingen. Zunächst erwartete ich, meine Kumpane kämen bald enttäuscht zurück, und alles ginge weiter wie bisher. Doch ich irrte mich. Zwar kamen mich hin und wieder ehemalige Mitpokulanten besuchen, aber sie waren völlig neue, mit dem neuen Leben zufriedene Menschen geworden. Zu ihren Arbeitgebern pflegten sie ein freundschaftliches Verhältnis. Zirkus-Indianer waren ungeheuer erfolgreich, besonders in Deutschland. Wo immer sie eintrafen, gaben Schulen und Firmen ihren Insassen frei. Ein Häuptling namens Two-Two ließ sich sogar in Dresden beisetzen, weil die Stadt seine zweite Heimat geworden war.
   Ich müsse mein Schicksal selbst in die Hand nehmen, sagten die Ex-Kumpane. Als Erwachsener müsse ich »den Willen in mir als ein Werkzeug meiner persönlichen Freiheit entwickeln und lernen, ihn auf meinen Vorstellungsvorrat anzuwenden«*. Aber dadurch sah ich mich aus dem Paradies der schöpferischen Möglichkei- ten verstoßen. Ich wollte nicht nur »Person« sein, sondern »Mensch im vollsten Sinne«. Kopfschüttelnd hörten die Indianer meine Ausreden. Sie sprachen von einem Dämon, von dem ich offenkundig besessen sei. Ob ich denn ein »Bohemien im schlechten Sinne« sein wolle? Einer von »jenen vielen Formlosen, die nicht nur im Gefühls- und Phantasieleben, sondern auch in der moralischen Bewältigungskraft große gefährliche Kinder geblieben sind, jenen ästhetenhaften Unproduktiven, von denen sich nicht wenige in einer fruchtlosen Sehnsucht nach den verlorenen ungeheuren Erregungen der Kindheit ihr Leben lang verzehren«? Dann zogen sie wieder zu ihren triumphalen Auftritten in die Welt hinaus. Trotzig blieb ich zurück, aber mich befielen allmählich Zweifel an meiner Lebensweise. Aus der Ferne nahmen meine wohlmeinenden Freunde Einfluß auf mein Schicksal.
   Ich hatte alte Bekannte in der damals noch existierenden DDR, in Dresden. Denen schickte ich regelmäßig Pakete mit den Segnungen des Westens. Dafür revanchierten sich die dankbaren Empfänger mit allerlei gutgemeintem, aber, unbrauchbarem Zeug, darunter auch etliche Bücher. Wieder einmal hatte ich so eine Sendung bekommen. Außer einem unansehnlichen Aschenbechersatz aus brennbarem Material und einem abstoßenden, schwer identifizierbaren Erzgebirgsartikel waren zwei, drei Bücher dabei. Ich nahm beiläufig eines zur Hand und schlug es auf. Es war ein von Tieren verfaßtes Buch, und es löste augenblicklich eine brennende Zirkusleidenschaft beim Leser aus. Natürlich ahnte ich nicht, daß es mir von den Indianern zugespielt worden war. Ich konnte nicht mehr aufhören zu lesen, der Kopf schwirrte mir tüchtig. Ab sofort sammelte ich alles, was mit Zirkus zu tun hatte. Bald war mein Nachtschränkchen angefüllt mit Zeitungsausschnitten, Programmheften, Zirkusbüchern und mühsam abgerissenen Plakaten. Fragmentarische Spielzeug-Zirkusse in drei verschiedenen Maßstäben nannte ich mein eigen. Ich ließ mir sogar vorübergehend den Mund mit Drähten und einem Kunststoffklotz füllen, um zur Belohnung dafür Tierfiguren und Zirkuswagen zu bekommen, Was nicht gekauft werden konnte, wurde selbst hergestellt aus Pappe, Sperrholz und Modelliermasse. Wenn es nötig gewesen wäre, hätte ich sogar Brot, Kot und Blut benutzt.
   Schließlich aber wollte ich meinen eigenen richtigen Zirkus im Maßstab 1:1 haben. Mit dem wollte ich im Regen von Stadt zu Stadt ziehen, vielleicht sogar einmal durch Ungarn. Ich ging hin und gründete einen Wanderzirkus. Natürlich fing ich ganz klein an. Zuerst war mein Zirkus so klein, daß er in einen Schulranzen paßte. Mit diesem hängte ich mich unter Eisenbahnzüge und fuhr von Ort zu Ort. In kurzer Zeit wuchs mein Unternehmen. Ein indianisches Salonorchester, die bekannte Kunstreiterin und -schützin Prärieblume und ein gutmütiger Grizzlybär gehörten nun dazu, Wir firmierten unter
 
Egners Völkerschau und altdeutsche
Bärenschauspiele.
 
   Kritiker nannten uns einen »metakarnevalistischen Sauhaufen«. Das gesamte lebende und tote Inventar paßte in einen einzigen alten Zirkuswagen. Den zog ich persönlich über die Landstraßen. Dabei ging ich auf Stelzen, in einen langen Umhang gehüllt, mit zerbeultem Cowboyhut und wildbewegtem Gesicht. Mit unartikulierten Ausrufen pries ich die Höhepunkte des Programms an, wahrend aus dem Inneren des Wagens Gemurmel und Musikfetzen drangen. Das Fehlen eines Zeltes kompensierte ich in dieser Frühzeit meines Zirkus mittels einer aufwendigen, einem orientalischen Märchenpalast nicht unähnlichen, Fassade. Die Menge der  Zuschauer nahm den Mangel nicht wahr, viel zu sehr waren alle mit Kartenabreißen beschäftigt. Jenseits des prunkstrotzenden Vorbaus liefen alle ziellos kreuz und quer. Niemand konnte fassen, daß hier gestern noch ein leerer Platz gewesen war. Das über Seile stolpernde Publikum wähnte sich in eine extreme Welt des Absonderlichen und Alogischen entführt. Nach einer kleckernden Ouvertüre der Indianer-Kapelle wurde die Märchenwelt lebendig. Als Prinzipal schnitt ich meine Grimassen, krähte wie Peter Pan; Prärieblume schoß hoch zu Roß alles kurz und klein. Der zottige Bär wackelte hin und her, sodaß sich sein duftiges weißes Röckchen aufbauschte. Bizarre Meeresgeschöpfe mit langen Haaren oder Herden von Elefanten, Kamelen, Drachen und dergleichen dachte man sich gern hinzu. Alles war verwirrend, und das sollte es auch sein. In den Pausen nahm ich immer wie- der das enthusiasmierende, von Tieren verfaßte Buch zur Hand. So wuchs meine Zirkusbegeisterung mit jedem Tag. Mein zerstörerischer Dämon, von dem die Indianer geredet hatten, war geläutert worden. In Form von zirzensischer Besessenheit lenkte er mein Leben nunmehr in produktive Bahnen.
   Im gleichen Maße wie die Begeisterung wuchs auch der Zirkus. Durch Ausstrahlung psychischer Energie (sogenannte Emanation) vermehrte ich täglich das Zubehör. Allerdings war diese Technik mit ganz ungewöhnlichen Kraftanstrengungen verbunden, und ich mußte sehr viel essen, um den Energieverlust auszugleichen. Am schwersten fiel mir die Anschaffung eines viermastigen Zeltes mit Platz für dreitausend Zuschauer. Ich brachte mich durch intensives Lesen in besagtem Buch in höchste Ekstase. Im Trancezustand stimmte ich einen religiösen Hymnus an. Dann begann ich mit strahlendem Gesicht den »Einmarsch der Gladiatoren« zu intonieren, wobei ich eine Zirkuskapelle onomatopoetisch darstellte. Bald änderte sich mein Zustand, ich schien meiner Sinne nicht mehr mächtig. Ich lachte, weinte, sang und trötete den Zirkusmarsch, wand mich wie ein Seiltänzer, nahm  unzüchtige Stellungen ein, versuchte Chemikalien zu trinken (zum Glück waren keine da) und fiel zu Boden ohne zu zerbrechen. Als das Chapiteau endlich heraus war, war ich vollkommen ermattet und mußte, noch bevor ich das Bewußtsein wiedererlangt hatte, zu Bett gebracht werden, wo ich erst nach mehreren Tagen erwachte. Auf die gleiche Weise, wenn auch etwas weniger anstrengend, schaffte ich weitere Wagen sowie Personal herbei. Gerade, als ich einen stattlichen Zirkus beisammen hatte, mußte ich auf ärztliches Anraten mit den Emanationen aufhören. Es hieß, ich untergrabe damit nach und nach meine Gesundheit. Der Zirkus florierte dergestalt, daß alles noch Fehlende, etwa Krokodilbrüder, spitzbärtige Angestellte oder doppelschwänzige Melusinen, auf gewöhnlichem Wege beschafft und bezahlt werden konnte. Durch die Emanations-Abstinenz erholte sich meine Gesundheit binnen kurzem. Ich konnte wieder in der Manege Fratzen schneiden, in der Abendvorstellung sogar den Bären vorführen, dessen Augen abwechselnd in vier Farben leuchteten: rot, gelb, grün und blau.
   Fachwelt und Publikum zollten mir ungeteilte Hochachtung, meine indianischen Freunde waren stolz auf mich. Wie gut, daß sie mir seinerzeit das Buch zugespielt hatten! Inzwischen brauchte ich es nicht mehr, meine Zirkusbegeisterung war nicht mehr steigerungsfähig. Selbst Giraffenhalsfrauen und leichtgeschürzte Pantherbräute verblaßten gegen mich in meinem exotischen Anderssein. Ein einziges Mal nur habe ich ein paar kostümierte Hundsäffinnen getroffen, die es mit mir aufnehmen konnten. Sie hatten sich aus Exkrementen ein Staatstheater errichtet - ausgerechnet auf dem Zirkusplatz! Dadurch wurde ein Konkurrenzkampf entfacht, der von beiden Seiten mit größter Härte und dem Einsatz aller Mittel geführt wurde.
   Ich unterlag und fing wieder an, mich mit den Trappern zu prügeln und den Barfrauen schönzutun. Zum Entsetzen meiner Indianerfreunde begab ich mich in Gesellschaft entwurzelter Eskimos, die so entwurzelt Waren, daß ich ihnen aus Plastik-Müllsäcken arktistaugliche Kleidung herstellen mußte. Mit denen versoff ich den ganzen Zirkus. 
 
 
*Hier wie im folgenden zitierten sie schamlos den Wissenschaftler G. F. Hartlaub (»Der Genius im Kinde«, Breslau 1930) und ließen mich glauben, die schönen Formulierungen seien von ihnen.
 
 
© Eugen Egner - Veröffentlichung aus dem Band „Getaufte Hausschuhe und Katzen mit Blumenmuster“
in den Musenblättern mit freundlicher Genehmigung. Herr Egner feiert heute Geburtstag.