Empfindliche Stelle

von Karl Otto Mühl
Empfindliche Stelle
 
 
Dieser Morgen liegt in Lauerstellung. Er ist diesig, aber nicht feucht, hinter den Wolkenlöchern ahne ich immer noch einen Dunstschleier und die Sonne, die ist überhaupt nicht zu sehen. Als ich vorhin aus dem Haus trat, stand sie als kleiner, weißlicher Ball am Himmel, fast hätte ich sie für einen morgendlichen Mond gehalten, aber dieser Ball ist auch verschwunden.
Ich fahre zur Bäckerei. An der Ampel sehe ich Rückspiegel einen jungen Mann, der sich während des Halts die blendend weißen Zähne putzt. Immer wieder überprüft er in seinem Rückspiegel das Ergebnis. Es sieht zwar komisch aus, aber ich sehe ein, ich habe ihm nichts vorzuwerfen. Die Polizei vielleicht doch.
 
Noch ist die Stimmung um mich und in mir trocken, nüchtern, zufrieden; also so, wie ich am besten zurechtkomme. Die schon hundertmal gesehenen Kunden treten ein, unbekannte kommen hinzu, die meisten holen Brötchen. Dem alten, kleinen Mann, der durch Krankheit bewegungsgehemmt ist, steckt die Hauptbäckerin, eine schlanke, noch jugendlich aussehende Frau, fürsorglich die Brötchen in den Rucksack, den sie wieder verschließt. Auch schöne, junge Mädchen tauchen auf, von uns allen bewundernd bemerkt.
 
Am besten weiß dies der Bildhauer zu schätzen, der gerade aufgetaucht ist und neben mir das Croissant verzehrt, zu dem er sich mit Verzögerung entschlossen hat. Er erklärt mir, daß es für ihn genüge, die Schönheit, die uns die Natur und die Menschen entgegenbringen, abzubilden, denn gerade auf die hat er es abgesehen.
 
Die Bäckerin überreicht inzwischen einer sehr alten Frau eine Packung Batterien, die sie in der Stadt  für sie besorgt hat. Es geht hier familiär zu.
 
Nichts Häßliches, Verzweifeltes, Niedergeschlagenes? frage ich den Bildhauer zaghaft.
Eher nicht. Er mag die Deformation nicht.
Hm. Ich verstehe ja nicht viel davon. Aber, frage ich, mir fallen gerade die Bäume ein. Die sind doch immer schön. Auch wenn sie gefällt sind, grün bemoost Teil des Waldbodens werden, wenn sie morsch werden, sterben, ja, sogar, wenn sie verfaulen.
Wir sind keine Bäume, sagt der Bildhauer.
So. Ich mag sie aber, sage ich eigensinnig.
Wir sind auch Geist.
 
Das Gespräch hat unserem guten Einvernehmen nicht geschadet. Ich verlasse den Dreieckstisch und marschiere einige hundert Meter weiter in den Wald, nicht zuletzt, um die Bäume und Baumstämme zu begrüßen, die ich seit vielen Jahren kenne. Ich glaube, ich liebe sie. Noch etwas, das ich ungern verlassen werde. Der verstorbene Regisseur Schlingensief fällt mir ein, der sagte: Im Himmel kann es gar nicht so schön sein wie hier.
 
Zwei alte Frauen aus der Nachbarschaft begegnen mir. Ich frage sie nach dem Wohin. „Wir gehen jeden Morgen zum Friedensgebet“, lautet der Antwort.
Wie bei den Mönchen, die mit ihren Gebeten die Welt zusammenhalten.
 
Nach einem halben Kilometer begegnet mir, bewehrt mit zwei Nordic-Walking-Stöcken, Herr G, ehemaliger Schuhgroßhändler, übergewichtig, friedlich-freundlicher Gesichtsausdruck. Vor einigen Monaten ist er mir hier zum letzten Male begegnet – „Sie sehen aber erholt und fit aus“, sage ich.
 
Gewiß. Er hat abgenommen, sagt er, und er macht täglich Sport. Ja, mit einem Freund. Seine Frau ist ja schon vor einiger Zeit gestorben.
Stimmt ja, fällt mir ein. Ob er wieder jemand gefunden habe, frage ich.
„Das kann ich nicht“, sagt er mit gepreßter Stimme. Sein Gesicht beginnt zu zucken, er preßt die Lippen zusammen und beginnt verzweifelt zu weinen. „Das kann ich nicht. Wir waren einundfünfzig Jahre verheiratet. Mit Sechzehn haben wir uns kennengelernt. Seitdem waren wir zusammen.“
Er hört nicht auf, zu weinen.
„Ich verstehe. Entschuldigen Sie“, sage ich. „Tschüss“, sagt er und geht weinend weiter.
 
Diese Trennungen. Sie verlangen zu viel von uns Menschen.
 


© Karl Otto Mühl - Erstveröffentlichung in den Musenblättern 2010
Redaktion: Frank Becker