Knochiger Stummer

Eine Café-Geschichte

von Karl Otto Mühl

Foto © Frank Becker
Knochiger Stummer
 
Vor Monaten ist er mir einmal begegnet, der entfernter wohnende Nachbar, den ich für mich immer den knochigen Stummen nenne. Sein Gesicht ist nämlich knochig, aber deswegen ist er nicht häßlich; im Gegenteil, er ist ein kräftiger, gutgewachsener Mann.
 
Ich war damals stolz, daß ich ihn bis zum Grüßen gebracht habe, aber damit habe ich mich für lange Zeit zufriedengeben müssen. Aber heute, als ich zu einem kurzen Morgenkaffee in der Bäckerei am Waldrand einkehren will, sehe ich ihn plötzlich wieder. Er sitzt vor dem Schaufenster an einem Tisch im Freien, und ich setze mich auf den freien Platz neben ihm.
 
Er beginnt sogar ein Gespräch mit mir, es geht ums Wetter-Genießen. Ich hake ein: Hat er Ferien? Die Kurzarbeit ist doch allgemein vorbei?
Nein, es ist ganz anders. Er ist arbeitslos.
Au weh. Mein Blick fällt auf seinen Opel Tigra am Straßenrand. Ich weiß, er fährt ihn schon lange. Der Wagen ist gepflegt.
 
Auf meine Frage antwortet er, daß er Maschinenschlosser sei - klar gebe es Stellen. Aber er sei jetzt Dreiundsechzig,  da könnte es schwer werden, etwas zu finden.
Ich habe ihn für jünger gehalten.
Er möchte ja aufhören mit dem Arbeiten, aber seine Rente werde verdammt knapp ausfallen. Er habe „nicht hoch geklebt“.
Vielleicht braucht er einen Zusatz-Job?
Ja, kann sein, antwortet er. Aber zunächst habe er ein anderes Problem.
 
Welches?
 
Als er noch arbeitete, ging es ja, sagt er. „Aber jetzt bin ich den ganzen Tag allein. Ich suche eine Frau.“
 
Da bin ich erstaunt. In den ganzen Jahren bisher habe ich ihn viele Male aus seinem Haus gehen sehen und wiederkommen, aber nie war eine Frau in der Nähe. Doch, einmal, war eine alte Frau bei ihm, die er später  in sein Auto steigen ließ. Vielleicht die Mutter, die er nach Hause fuhr. Was für Gefühle wird er für sie, für Frauen haben, von gängigen Männerfantasien abgesehen? Hat er Angst vor ihnen, fürchtet er Ohnmacht oder Versagen? Glaubt er nicht gut genug zu sein? Oder - fürchtet er Aufdeckung? Daß von einer Frau plötzlich etwas an ihm bemerkt wird, was er selbst nie sehen wollte, ein Stachelkleid, das dem eigenen Blick verborgen bleibt?
Plötzlich tut er mir leid. Ein schwerfälliger Mann, sparsam mit Worten, unfähig, über Gefühle zu sprechen. Welches Wunder müßte geschehen, damit jemand das Liebenswerte an ihm entdecken könnte?
 
Ober denn schon einmal verheiratet war?
Nein. Das gerade nicht.
 
Diese Tatsache scheint ihm überhaupt nicht verdächtig zu sein. Ich will ihn aber nicht ausfragen, diese Rolle will ich mir nicht anmaßen. Er hat es ja schon gesagt, er merkt halt erst jetzt, daß er mit jemand reden möchte. Das ist das Wunderliche, nämlich, daß es so lange gedauert hat bei ihm. Und fast entsteht innen in mir ein Monumentalbild, ein wüsteneinsamer Mann mit hoffnungslosem, knochigen Gesicht, der im prallen Sonnenlicht der Einsamkeit steht und nach Nähe hungert.
Er wird nicht wissen, woran es lag, denke ich. Bis er sich mit jemand über seine Einsamkeit verständigen kann, denke ich, bis dahin ist es so weit wie von hier nach Grönland.
 
Er soll mit unbedingt berichten, wie es nun weitergeht mit ihm, sage ich. Mehr fällt mir nicht ein.
Er nickt ernsthaft.
 


© Karl-Otto Mühl - Erstveröffentlichung in den Musenblättern 2010
Redaktion: Frank Becker