Unter Ratten (2)

Erzählung

von Dorthea Renckhoff
Unter Ratten (2)

Erzählung
von Dorthea Renckhoff


Schon in der Nacht hatte die alte Dame die ätzende Säure in eine leere Sherryflasche gefüllt. Sie wußte nicht, ob ein kräftiger Schluck tödlich wirkte; vielleicht kam das Weib mit dem Leben davon, aber es wäre monatelang nicht in der Lage zu sprechen. Ohne Angst könnte sie sich auf Bubis Besuch freuen.
Es durfte nur nicht so aussehen, als hätte ihre Verwirrtheit den Unfall verursacht. Die Metternich selbst mußte schuldig am eigenen Unglück erscheinen, sonst war alles vergebens. Und so hatte die alte Dame heute morgen ihre beiden Frauen in der Küche um sich versammelt, Frau Metternich und Frau Stein, um ihnen zu erklären, daß sie die Essigessenz in eine Sherryflasche hatte füllen müssen, weil der Verschluß des Originalbehälters defekt gewesen war. Frau Stein würde sich daran erinnern; sie würde sich auch an das mit ‚Vorsicht, Gift!’ beschriftete Schildchen erinnern, das vorn über dem Flaschenetikett klebte – deutlich lesbar für jeden, der lesen konnte und wollte. Frau Stein würde auch bezeugen, daß die alte Dame diese Flasche nach unten in den Küchenschrank gestellt hatte, zu den Putzmitteln, und nicht nach oben, wo der Sherry neben den Gewürzen stand. Frau Stein wird bezeugen, daß Frau Metternich jede Art des Lesens verabscheut und niemals richtig zugehört hat, wenn man ihr etwas sagen wollte. Frau Stein ist zuverlässig. Sie kann nach dem Tod der Metternich Einkäufe und Botengänge übernehmen.

Gutwillig ließ die alte Dame sich von Frau Metternich die Treppe hochzerren. Sie setzte den Strohhut ab und steckte die dünnen Handschuhe in ihre Handtasche, die sie wie jeden Tag mit zum Essen in die Küche nahm. Nur Frau Metternichs Fingerabdrücke wird man finden, auf der Flasche mit dem Gift und auf der leeren Sherryflasche im Schrank. Friedlich setzte die alte Dame sich auf einen Küchenstuhl und sah zu, wie das Weib aus Büchsenfleisch und blassen Tomaten  eine Mahlzeit zusammenmanschte. Dies eine Mal muß sie den Fraß  noch schlucken, dann kann sie sich Pekingente ins Haus bestellen, so viel sie will, und Frau Stein wird gern wieder für sie im Esszimmer decken.
Das kleine Ölfläschchen der Putzfrau stand neben dem leeren Salzstreuer auf dem Tisch. Von Zeit zu Zeit nahm sie einen Löffel mit einem Gemisch aus zwei Teilen Rizinus und fünf Teilen Olivenöl. Das ständige Lamentieren über ihre Verdauung war wohl Frau Steins einzige lästige Eigenschaft. Die alte Dame lächelte. Wenn gar nichts half, hatte ihr Vater damals in Ceylon manchmal Krotonöl genommen, ganz vorsichtig und tropfenweise. Ein Schlückchen zu viel, hatte er immer gesagt, und man starb auf gräßliche Weise. Kein Wunder, daß man es in Deutschland nicht kaufen konnte.
Und dann klingelte es, Punkt zwei, genau im richtigen Moment, als sie vom Essen aufgestanden war und am Küchenschrank stand, um ihre Serviette wegzulegen. Sie braucht nur zu warten, bis Frau Metternich durch den langen Flur zur Etagentür gegangen ist; Frau Stein ist längst im Keller verschwunden. Durch die bleiverglasten Scheiben der oberen Schranktür schimmern nebeneinander zwei Sherryflaschen, eine halb voll, die andere so gut wie leer. Nie mehr wird  die Metternich diesen unanständigen Rest zurücklassen. Rasch zieht die alte Dame ihre Handschuhe an. Nimmt die halbvolle Flasche heraus,  leert sie in den Ausguß und versenkt sie im Mülleimer. Läßt Wasser laufen, damit das Weib den vergossenen Sherry nicht riecht. Sie hört die fette Stimme auf den Pfarrer einreden. Hört die beiden in das Zimmer gehen, wo die große Truhe mit den Federbetten steht. Was für ein Glück, ihre Ohren funktionieren noch tadellos. Auch bücken kann sie sich noch, wenn es sein muß.
Und mit zusammengebissenen Zähnen – es tut doch weh – beugt sie den Rücken, bis sie die Flasche mit der Essigessenz unten im Schrank greifen kann. Nimmt sie von den Putzmitteln fort und stellt sie nach oben, neben die Flasche mit dem häßlichen Rest. Dreht sie mit dem Etikett nach hinten. Seit Wochen hat sie darauf geachtet, daß die Etiketten immer nach hinten zeigen. Die Metternich wird nichts Besonderes daran finden. Wird die Aufschrift ‚Vorsicht, Gift!’ nicht sehen, sondern blind nach einer Flasche greifen, aus der sie am selben Tag schon mehrmals getrunken hat. Glaubt sie.
Wenn Frau Stein aus dem Keller heraufkommt, findet sie das Weib mit verätzter Kehle vor dem Küchenschrank, in dessen oberem Fach nur noch eine fast leere Sherryflasche steht. Natürlich, wird sie denken und später auch aussagen, Frau Metternich hat nach einer anderen Flasche gesucht und ist an die mit der Essigessenz geraten, unten bei den Putzmitteln. Weil sie am Morgen nicht zugehört hat.

Die alte Dame lauscht. Der Pfarrer verabschiedet sich. So rasch sie kann, verläßt sie die Küche, auf ihren Stock gestützt, der ihr in der Wohnung den Arm der Metternich ersetzt. Das Weib darf jetzt auf keinen Fall mißtrauisch werden, weil sie so lange in der Küche geblieben ist. Die Wohnungstür fällt zu. Die Metternich stapft noch einmal zur Truhe und werkt daran herum, und mit einigen hastigen Schritten ist die alte Dame im Wohnzimmer und läßt sich in der Sofaecke nieder. Man muß dem Weib Zeit lassen, seinen Abschiedstrunk zu nehmen. Sie wartet geduldig. Jetzt zieht die Person wohl den Kittel aus, das scheußlichste Kleidungsstück der Welt, schlimmer als Trainingshosen. Jetzt ein flüchtiges Händewaschen, das Abtrocknen am Geschirrtuch. Seit die Metternich Dienst in diesem Haushalt tut, haben alle Gläser Streifen und Fettflecken. Aber sie benutzt ja auch nie Gläser. Jetzt geht sie zum Schrank, nimmt die Flasche - - -  Die alte Dame umklammert ihre Handtasche.
Dann zerreißt ein grauenvoller Schrei die Luft, gellend, gepeinigt, voller Entsetzen. Daß man mit Essigessenz im Hals noch so schreien kann. Die alte Dame hat eher mit etwas wie Röcheln gerechnet. Der Schrei reißt nicht ab, wird höher, panischer und sogar noch lauter. Dann kommen Schritte aus der Küche. Die alte Dame drückt sich erschrocken in die Polster. Sehen will sie das eigentlich nicht. Die Tür schwingt auf.

Auf der Schwelle steht Frau Stein. Sie hält etwas großes Dunkles in die Höhe. Ein langer blassrosa Wurm scheint daran herunter zu hängen. ‚Ich hatte im Keller eine Rattenfalle aufgestellt,’ sagt sie. ‚Nun hat sich Frau Metternich so vor dem toten Tier geängstigt, daß ihr die Flasche aus der Hand gerutscht ist.’ Sie schließt die Tür und kommt näher. Der nackte Rattenschwanz baumelt von ihrer Hand nieder. ‚Es war Essigessenz in der Flasche.’ Sie tritt direkt vor das Sofa. Am Kopf der Ratte ist Blut.
‚Sie sollten kein Gift zwischen die Getränke stellen,’ bemerkt Frau Stein. ‚Es könnte ja auch mal jemand anderes davon trinken als Frau Metternich.’ Gelassen nimmt sie neben der alten Dame auf dem Sofa Platz und legt die tote Ratte auf das gestickte Seidenkissen zwischen ihnen beiden.
Die alte Dame kann nicht antworten. Sie starrt ihre freundliche Putzfrau nur an. Und dann fällt ihr Blick auf ihre eigenen Hände, die immer noch die Tasche umklammern. Sie hat die Handschuhe anbehalten.
‚Ja,’ sagt Frau Stein, ‚zur Drecksarbeit trägt man Handschuhe.’ Sie legt ihre Hand mit dem schmutzigen Gummihandschuh auf das Knie der alten Dame, neben die feine Hand im hauchdünnen Saffianleder.
‚Und ich möchte mich auch bedanken,’ fügt sie nach einer kleinen Pause hinzu, ‚daß Sie mir den geschnitzten Schrank aus Ceylon schenken wollen, und die Chippendalestühle. Den Wäscheschrank kann ich leider nicht stellen, aber von den andern Möbeln kann ich sicherlich noch einiges verwenden. Frau Metternich braucht ja Platz für ihre eigenen Sachen, wenn sie nun zu Ihnen zieht. Das können wir ja in den nächsten Wochen alles gemeinsam in Ruhe überlegen. Nur den Biedermeiersekretär würde ich gerne so bald wie möglich abholen.’
Die alte Dame räuspert sich ein paar Mal. ‚Ja, natürlich,’ sagt sie dann, ganz leise. ‚Aber bitte,’ fährt sie nach einem Augenblick fort, ‚nicht vor morgen. Ich möchte heute noch Briefe schreiben.’ ‚Aber gern,’ antwortet Frau Stein zuvorkommend. Sie nimmt die tote Ratte und verläßt mit leisen Schritten das Zimmer.

Die alte Dame steht auf und geht zu dem Sekretär, an dem sie damals stundenlang gesessen hat, um die Umschläge für ihre Verlobungsanzeigen zu beschriften. Zur Hochzeit bekam sie ihn dann von ihrem Vater geschenkt. Was war das für ein heißer Sommer. Fast wie auf Ceylon.
Sie setzt sich und schreibt einen Brief nach Sri Lanka, wie es jetzt heißt: ‚Ich habe eine reizende Hilfe,’ lautet der Schluß, ‚aber sie hat große gesundheitliche Probleme. Leider kann man bestimmte wirksame Mittel hier in Deutschland nicht bekommen, und ich würde ihr doch so gerne helfen. Wärst Du so freundlich, mir bei Deinem Besuch ein Fläschchen Krotonöl mitzubringen?’
 
 
 
© Dorothea Renckhoff – Erstveröffentlichung in den Musenblättern 2010
Redaktion: Frank Becker