Schreiben, um sich zu behaupten

Hanns-Josef Ortheil - "Die Erfindung des Lebens"

von Martin Hagemeyer
Schreiben,
um sich zu behaupten

Der Roman seines Lebens“ – man möchte das Urteil wagen: Zu diesem Buch von Hanns-Josef Ortheil paßt der Ausdruck in doppelter Hinsicht. Neutral bezeichnet er zunächst die Gattung: „Die Erfindung des Lebens“ ist ein erzählender Text, der erkennbar am Leben seines Autors orientiert ist. Daneben mag er aber auch die herausgehobene Bedeutung treffen, die das Werk für diesen haben dürfte. Denn der Leser erfährt: Jahrzehntelang hat Ortheil, einer der bedeutendsten deutschsprachigen Autoren der Gegenwart, darauf hingearbeitet, seinen Weg zum Schriftstellerberuf in einem Roman zu gestalten.
 
Jeder Germanistikstudent weiß: Man sollte den Erzähler nicht mit dem Autor gleichsetzen. Daher sei die Handlung hier umrissen, ohne zu mutmaßen, wie „authentisch“ sie ist: Ein Schriftsteller beschließt, seine Lebensgeschichte aufzuschreiben – in Rom, dem Ort seiner Jugend. Nachdem seine Mutter nach dem Verlust von vier Söhnen ihre Sprache verloren hat, wächst auch der kleine Johannes zunächst stumm und dadurch isoliert auf. Eine Möglichkeit, sich zu äußern, finden Mutter und Kind schließlich im Klavierspiel. Zwei Erlebnisse lösen aus, daß Johannes unvermittelt Kinder beim Spielen anspricht und seitdem reden kann. Auch die Mutter findet ihre Sprache wieder. Ein Klavierlehrer entdeckt das enorme musikalische Talent des Jungen und sagt ihm eine große Zukunft voraus. In einem Ausbruch von Fernweh reist Johannes als junger Mann allein nach Rom; es wird das Erlebnis einer tiefen Befreiung. Er beschließt, sich hier zum Pianisten ausbilden zu lassen, und beginnt eine leidenschaftliche Liebesbeziehung mit einer jungen Frau. Doch dann bereitet eine Erkrankung der Hand seinen beruflichen Plänen ein jähes Ende, und auch die Beziehung zerbricht. Schließlich findet er über seine Hefte voller Notizen, die er über die Jahre angesammelt hat, dazu, Schriftsteller zu werden. Der Roman endet in der Gegenwart des Erzählers, der sich erstmals nach Jahrzehnten wieder vor Publikum an ein Klavier setzt.
 
Und doch läßt Ortheil keinen Zweifel daran, daß es in der Tat um ihn geht. Als er in einem Interview über sein Leben erzählt, klingt es wie eine Inhaltsangabe des Romans. Es bleibt die Frage, warum er diese literarische Form gewählt hat, nicht die der Autobiographie. Die Antwort ist gefunden, sobald man einige Seiten gelesen hat: „Die Erfindung des Lebens“ ist ganz ein Werk der Innerlichkeit. Man wird geführt durch die Gefühlswelten eines Kindes und jungen Mannes, mit seiner eigenartigen Wahrnehmung und seinen „Ticks“, wie er sagt: Wegen seines Stummseins lebt er extrem bezogen auf die Eltern, vor allem die Mutter; er ordnet Eindrücke in einer peniblen gedanklichen Systematik an, die er selbst als autistisch bezeichnet; auch nachdem er die Sprache gefunden hat, bleibt er höchst verletzlich und hat Probleme mit sozialen Kontakten. Alldem wird die Darstellung völlig untergeordnet. Äußere Fakten interessieren nur, soweit sie relevant sind für sein seelisches Befinden. Das Buch erzählt nicht ein Leben, wie bei Autobiographien üblich, sondern eine innere Geschichte – freilich eine wahre.
 
Es ist die Geschichte einer Öffnung zur Welt, und es ist die Geschichte einer Emanzipation: durch die Sprachfindung, aber zuvor noch durch die Musik. Als der Junge die ersten Versuche auf dem Klavier unternimmt, heißt es: „es war meine Musik, ich machte Musik, ich hatte endlich etwas gefunden, mit dem ich mich bemerkbar machen konnte.“ Vor anderen zu sprechen beginnt er gerade, nachdem seine Mutter mit einem Chopin-Stück auf sich aufmerksam gemacht hat – als wolle er sie übertrumpfen. Und sie selbst zwingt er zu sprechen, als er gegen ihren Willen zu einem Sprung in den Fluß ansetzt: „Ich musste springen, ganz unbedingt, die alten Zeiten, in denen Mutter mir immer wieder gesagt hatte, was ich tun durfte und was nicht, waren endgültig vorbei“ – ihr entfährt der erfolglose Befehl: „Spring nicht!“ Implizit schließlich das erstaunliche Bekenntnis: Seine Schriftstellerkarriere ist nichts anderes als ein weiterer Versuch, an der Welt teilzuhaben und sich zu behaupten – nach dem gescheiterten musikalischen.
 
Diese Geschichte ist linear erzählt, bewußt komponiert und in sich abgeschlossen – wie Romane es zu tun pflegen. Statt in ihrer Ausführlichkeit und Selbstbezogenheit geschwätzig zu wirken, geschieht so etwas ganz Anderes: Diese sechshundert Seiten lange Innenschau ist ungemein spannend zu lesen. Durch die klare Struktur verfolgt der Leser die Entwicklung des Jungen und bangt um sein Schicksal. Denn es fehlt nicht an Krisen im Leben des jungen Johannes: Als er in einem Kloster-Internat viel auf der Orgel spielt, droht er allmählich das Sprechen wieder aufzugeben und sich in sich zurückzuziehen. Und beim durch Krankheit erzwungenen Ende der Pianistenausbildung, als er ohne Perspektive aus Rom zu seinen Eltern zurückkehrt, steht unausgesprochen die Ahnung im Raum, daß alles noch einmal kippen könnte.
Daneben läuft die Rahmenhandlung um den älter gewordenen Erzähler in Rom, der wieder eine Frau kennenlernt und deren Tochter Marietta Klavierunterricht gibt. Und gegen Ende werden Erzählsituation und notierte Vergangenheit ohne Scheu vor Pathos zusammengeführt: „Gerade jetzt, gerade zu dem Zeitpunkt, da Marietta ihr Konzert geben wollte, schrieb ich am Schlussstück meiner Lebensgeschichte und damit davon, wie aus einem jungen Pianisten ein junger Schriftsteller geworden war.“ Es ist Höhe- und Schlußpunkt eines Textes, der realitätsnah ist und doch sorgsam konstruiert: aus einem „Leben“ schöpfend und doch „Erfindung“.   
 
 
Hanns-Josef Ortheil: Die Erfindung des Lebens.
© 2009 Luchterhand Literaturverlag, München, 591 Seiten
22,95 € [D], ISBN 978-3-630-87296-4

Weitere Informationen unter: www.randomhouse.de/luchterhand