Gespenster in sturmheller Nacht

von Eugen Egner

Eugen Egner - Foto © Frank Becker

Gespenster in sturmheller Nacht



Wenn der aus dem Teppich herauswachsende Mann etwas nicht leiden konnte, dann war es Staub. Sobald er dem Teppich vollends entwachsen und in der Lage war, sich frei zu bewegen, stellte er fest, daß überall in der Wohnung Staub lag. Vor lauter Staub erkannte er das Telephon nicht wieder, wenngleich sich auch die Frage erhob, ob er es je zuvor gesehen haben konnte, aus dem Teppich herausgewachsen, wie er war. Verunsichert rettete sich der Mann in die folgende Argumentation: „Natürlich (sic!) erkenne ich mein Telephon nicht. Es hat ja auch kein Geschlechtsorgan.“ Überflüssig zu erwähnen, wie sehr dieser Gedankengang jeglicher Logik entbehrte, doch niemand widersprach, das Telephon blieb stumm. Wie gesagt, konnte der Mann Staub überhaupt nicht leiden. Er faßte es einfach nicht, daß in Amerika sogar Radios daraus hergestellt wurden. Mit diesen Empfindungen füllte er den stillen Innenraum.

Draußen aber stürmte es. Nicht nur der Staub wurde fortgeweht, sondern ebenfalls die schwarze Materie, die bei Nacht Dunkelheit verbreitet. Deshalb hätte man schwören können, es sei Nachmittag und nicht, wie die Uhr behauptete, Mitternacht. Der staubhassende Mann sah zum Fenster hinaus. Im Nachbargarten fielen ihm runde, ballgroße Lampen auf, die schwach leuchteten. Ihn wunderte, daß sie sich hin und her bewegten, bis er begriff: „Es sind die Köpfe der Nachbarskinder! Wie gespenstisch!“

Gespenstisch war auch die Stimme, die er dann hinter sich vernahm: „Wann bekomme ich endlich den versprochenen Staubsauger?“ Er fuhr herum. In einer dank fehlender Luftbewegung dunklen Ecke des sehr staubigen Zimmers saß eine Person, von der Mann sofort wußte, daß sie sein Vater war, der gleichfalls aus dem Teppich herausgewachsen sein mußte. „Wann bekomme ich endlich den versprochenen Staubsauger?“ wiederholte die schwer erkennbare, greisenhafte Gestalt. Der Mann erinnerte sich: Seit Jahren brachte er sich fast um, indem er Geld zusammensparte, um seinem Vater einen neuen Staubsauger kaufen zu können. Er fühlte, daß es jetzt so weit war. Der neue Staubsauger stand schon in der Diele, bereit, verschenkt zu werden. Die jahrelangen, unaussprechlichen Entbehrungen hatten sich gelohnt. Ein feierlicher Moment! Und höchste Zeit zudem, denn der Vater wurde ungeduldig.


„Er war sehr teuer“, sagte der Mann, als er seinem Vater das wertvolle Präsent überreichte. „Na und?“ lautete die Antwort. „Du erbst ihn doch mal.“ Dem Mann, der gar  nicht mehr wußte, daß er vor kurzem erst aus dem Teppich herausgewachsen war, fiel mit einemmal auf, wie unangenehm der Staubsauger roch. Dafür hatte er sich nun fast umgebracht! Vor Enttäuschung und Wut wollte er ihn schon zertreten, konnte sich aber im letzten Moment noch beherrschen. Es war, wie seine Vernunft ihm eingab, schließlich ein Geschenk für seinen Vater, und der nahm an dieser Widrigkeit allem Anschein nach nicht den geringsten Anstoß, ja, eventuell mochte er den Geruch sogar. Deshalb beschloß der Mann, nicht kleinlich zu sein und sich stattdessen lieber mit seinem Vater zu freuen. Das erste, was dieser dann mit dem neuen Gerät tat, war, nach dem Abwasch das Spülwasser aufzusaugen.


© Eugen Egner - Erstveröffentlichung in den Musenblättern 2007