Morgen im Autohaus

von Karl Otto Mühl

Foto © Frank Becker
Morgen im Autohaus
 
 
Die Bäckerei war überfüllt mit Blaumännern, mit denen ich noch nie gesprochen hatte. Ich weiß nicht, ob ich einen von ihnen schon öfter gesehen hatte. Ich verkroch mich in die Ecke hinter dem Kühlschrank und las in meiner eng zusammengefalteten Zeitung, verständnisvoll gegrüßt von einem Bauern aus der anschließenden Talsenke, der einen zwanzig Jahre alten Mercedes fährt, und dem lauten, aber sehr solidarischen Gärtnermeister, der manchmal mit dem Quad vorfährt, beides alte Männer wie ich. Die kannte ich wenigstens..
 
Die Bäckerin machte mich darauf aufmerksam, daß ich freitags immer eine Illustrierte für die Familie mitnehme. Trotz Andrang bin ich hier doch noch zu Hause und wohlgelitten, fühle ich.
Mir fiel ein Ausspruch ein („Neunzigjährige sind auch richtige Menschen“), und dazu mein Freund Gottfried, der ihn auch gelesen hatte und der sagte, es müsse heißen: „Ab Neunzig werden wir richtige Menschen“.
Die Welt der alten Menschen, sie ist täglich um mich, ich kann Gottfried verstehen. Jeder alte Mensch ist immer noch von einer ganzen Welt umgeben und erfüllt.
 
Trotz ausreichender Gedankenflut reiße ich mich los von Stehtisch, Kaffeepott,  Stimmengewirr, Boulevardzeitung - fast jede Veränderung weckt Widerstand bei uns Älteren, außer vielleicht, wenn Zahnschmerzen nachlassen - und fahre zum Autohändler, um einen bestellten Ersatzschlüssel abzuholen. Ich schätze die Herstellkosten dafür auf fünf Euro, die Umtriebe - Codieren, Verwalten, Versenden, Registrieren - sind jedoch gewaltig und rechtfertigen einen Stundenlohn. Ich zahle siebenundsechzig Euro an ein niedliches, schlankes Mädchen hinter der Theke, dem alle Blicke folgen.
 
Ich befinde mich im Kundendienstraum, Männer in blauen Arbeitsmänteln hinter Schreibtischen, Kundinnen vor einer  Tasse Kaffee in der Ecke sitzend, durch das Fenster schaue ich auf die hochragenden Glaspaläste mit den Ausstellungsräumen.
Und jetzt die Menschen um mich! Kunden und Verkäufer und Vertreter, fast alle mit Hemd und Krawatte, dazwischen Kunden in Jeans, Blaumann, Cord oder im Rollkragenpullover - und alle, alle, lässig, flott, alle Herrenreiter mit klimpernden Autoschlüssel, alle flott, eilig, souverän, alle wie Herren von Stand - man muß sie hassen, weil man weiß, wie unbeachtet sie uns lassen -
 
Und draußen steht vielleicht ihr Auto, sei es ein Jaguar (nee, die machen sie hier nicht) oder ein abgestotterter Kleinwagen. Und sie sagen nicht, was man macht, wenn man sich kleinlaut fühlt, verlassen, wenn die Frau weggelaufen ist oder einen beim Chef verklatscht hat aus Eifersucht (habe ich alles schon gehört), wenn man den Anruf der Arztpraxis oder der Klinik fürchtet, wenn das Häuschen versteigert wird, aber „Dieses Auto wird Sie glücklich machen“, das kann man hier vielleicht lesen.
 
Herr Zenker (steht auf dem Schild auf seinem Schreibtisch) im blauen Lageristenmantel gibt mir Schlüssel und Rechnung. Er ist freundlich und auskunftswillig, doch nicht gerade clever oder gewandt. Also kein glatt lackierter Typ. Vielleicht wundere ich mich in diesem Augenblick, daß man in unserer Zeit auch dann eine Stellung findet, wenn man so ist.
 
Ich gehe über den riesigen Vorplatz, auf dem geduckt eine Herde wartender Autos steht. So darf der Tag nicht enden, denke ich. Diese Welt hier um dich, sie läßt dich allein. Vielleicht trabe ich noch ein bißchen durch den Wald bei der Bäckerei, Da laufe ich zwischen freundlichen Bäumen, die sich arglos freuen, zu leben und zu wachsen.



© Karl Otto Mühl - Erstveröffentlichung in den Musenblättern 2010