Im Mohrenland gefangen...

Giles Milton - "Weißes Gold"

von Friederike Hagemeyer
„Im Mohrenland gefangen ...“[1] - weiße Sklaven in Nordafrika


Giles Milton erzählt die Geschichte
Thomas Pellows
und anderer weißer Sklaven



Am 16. Juli 1782 wird im Wiener Burgtheater unter Leitung des Komponisten das Singspiel „Die Entführung aus dem Serail“ uraufgeführt; die erste „deutsche Oper“ wird ein Riesenerfolg, und für Wolfgang Amadeus Mozart bringt sie den künstlerischen Durchbruch. Mit der Wahl des Stoffes  -  erstmalig hatte er selber starken Einfluß auf das Libretto genommen  -  beweist Mozart ein gutes Gespür für den Zeitgeschmack, denn die exotische Kultur des Orients übt auf seine Zeitgenossen eine starke Faszination aus. Mit dem Thema, Handel mit europäischen Sklaven im Osmanischen Reich, trifft Mozart aber auch ein aktuelles Problem, das die europäischen Staaten seit der Mitte des 16. Jahrhunderts in Atem hält und noch immer einer Lösung harrt.
In Mozarts Singspiel endet die Geschichte glücklich: die von Korsaren geraubte Konstanze wird an den Hof von Selim Bassa (= „Pascha“) verkauft; der droht, sie mit „Martern aller Arten“ (Arie der Konstanze, 2. Akt) zur Liebe zu zwingen. Hilfe ist jedoch nah, denn Konstanzes Bräutigam ist an der Küste gelandet, um sie zu befreien. Auf der Flucht ertappt, müssen beide mit härtester Strafe, ja, mit dem Tode, rechnen. Doch der Bassa, in Wirklichkeit ein zum Islam konvertierter Christ, zeigt sich großmütig und läßt die Gefangenen ziehen.
 
Die Realität sieht im 18. Jahrhundert in Nordafrika jedoch völlig anders aus: viele tausend männliche weiße Sklaven werden durch Unterernährung, härteste körperliche Arbeit, Folter und drakonische Strafen  -  schnell rollt mal ein Kopf in den Sand  - zu Grunde gerichtet. Weiße Frauen verschwinden sofort auf Nimmerwiedersehen hinter Palast- und Haremsmauern.
 
Piraterie und Menschenraub an den Küsten Europas
 
Für die mohammedanischen Seeräuber erweist sich der Verkauf von weißen Sklaven als lukratives Geschäft: sie haben eine Ware anzubieten, für die es keine Absatzprobleme gibt, europäische Sklaven sind im ganzen arabischen Raum außerordentlich gefragt.
Am Anfang des 16. Jahrhunderts beschränkt sich die Seeräuberei zunächst auf die Küsten des westlichen Mittelmeeres, bald aber weiten die Korsaren ihre Kaperfahrten in den Atlantik und an die Küsten Westeuropas aus. Sie begnügen sich nicht mehr damit, Schiffe auf hoher See anzugreifen, sondern überfallen ab Anfang des 17. Jahrhunderts auch küstennahe Ortschaften, besonders Spanien und Portugal sind betroffen. Dort ergreifen sie so viele Menschen wie möglich, plündern und brandschatzen. Ihre Raubzüge dehnen sie immer weiter in den Norden aus, auch die Küsten Süd- und Westenglands sowie Irlands bleiben nicht verschont. 1625 erscheinen drei Korsarenschiffe sogar vor Reykjavik und nehmen 400 Männer, Frauen und Kinder gefangen.
Die Fürsten der sogenannten „Barbareskenstaaten“ von Tunis bis Marokko verdienen ebenfalls nicht schlecht an diesem Handel; die Piraterie und damit verbunden Menschenraub und Lösegelderpressungen, bildet zwischen dem 16. und 19. Jahrhundert ihre Haupteinnahmequelle. Moderne Schätzungen gehen davon aus, daß allein zwischen 1530 und 1780 ca. 1,25 Millionen Weiße im Maghreb versklavt waren – eine erstaunliche Zahl, die sich jedoch schnell relativiert, vergleicht man sie mit den etwa 15 Millionen Schwarzafrikanern, die etwa gleichzeitig im transatlantischen Handel als Sklaven in die neue Welt verkauft werden. Erst die französische Besetzung Algeriens 1830, etwas später Tunesiens und schließlich die spanische Besetzung Marokkos 1912 bereiten der Piraterie ein Ende.
Nur wenigen Sklaven gelingt es, über Kaufleute ihren Familien in der Heimat Nachrichten von ihrem Schicksal zukommen zu lassen. Als die Überfälle auf Handelsschiffe und Küstendörfer immer dreister werden, versuchen die christlichen Staaten, ihre Landsleute freizukaufen, wenn  -  ja, wenn sie dem christlichen Glauben nicht abgeschworen haben. Abtrünnige, die sich fast immer nur unter Folter dazu bereit erklären, zum Islam überzutreten, werden von den Listen der Freizukaufenden gestrichen. –  Ein großer menschlicher aber auch ein schwerer politischer Fehler, wie sich im nachhinein herausstellt, denn ohne die Renegaten hätten sich die nordafrikanischen Sultanate nicht so lange an der Macht halten können. Die europäischen Sklaven sind gute Handwerker, besonders gefragt sind z.B. Waffenschmiede oder militärisch geschulte Personen, Goldschmiede, Steinmetze oder Baumeister. Sie können organisieren, mit Geld umgehen und fungieren als Dolmetscher; wenige steigen in der Hierarchie auf, erreichen einen gewissen Wohlstand und übernehmen hohe Verwaltungsposten, aber  -  sie bleiben Sklaven.
 
Thomas Pellow
 
Einer der wenigen  Sklaven, dem nach dreiundzwanzig Jahren in Marokko die Rückkehr in sein Heimatdorf in Cornwall gelingt, ist Thomas Pellow aus Penryn (bei Falmouth).
Mit elf Jahren ertrotzt er sich 1715 von seinen Eltern die Erlaubnis, auf dem Schiff  „Francis“ seines Onkels John Pellow als Schiffsjunge anzuheuern. Auf dem Rückweg von Genua, die schwierige Biskaya liegt bereits hinter ihnen, wird das unbewaffnete Schiff von marokkanischen Korsaren angegriffen und die Besatzung gefangen genommen. Auf dem Sklavenmarkt von Meknes wird Thomas zusammen mit seinen Leidensgenossen feilgeboten. Sultan Mulai Ismail (1672 – 1727), einer der grausamsten und unberechenbarsten Fürsten, genannt „der Blutige“, wird auf den kleinen Thomas aufmerksam, kauft ihn den Korsaren ab und schenkt ihn einem seiner vielen Söhne. Der setzt nun alles daran, Thomas zum Übertritt zum Islam zu bewegen. Lange widersetzt sich der Junge, aber unter der Folter  -  beliebtes Mittel ist die gefürchtete „Bastonnade“  -  willigt er schließlich ein, wohl wissend, daß er damit seine Chancen für einen Freikauf verspielt hat. Allmählich bessert sich seine Lage und er wird nach einiger Zeit mit Aufgaben in der direkten Umgebung des Sultans betraut, ein Leben auf Messers Schneide beginnt: „Ich hielt es für angemessen, jeden meiner Schritte genau zu bedenken“, schreibt er in Erinnerung an jene Zeit.
Etwa 17 Jahre ist er alt, da verheiratet ihn der Sultan mit einer anderen Sklavin. Bald wird eine Tochter geboren. Der junge Vater scheint mit seiner Familie glücklich zu sein; besonders hängt er an seiner kleinen Tochter. Inzwischen spricht und schreibt er fließend arabisch und er erhält immer verantwortungsvollere Aufgaben.
Als Mulai Ismail stirbt, bricht unter seinen sieben Söhnen ein Machtkampf aus, die Lage wird nicht einfacher für Thomas Pellow. Als 1729 seine Frau und Tochter vermutlich an einer Infektionskrankheit sterben, denkt er nur noch an Flucht. Seine Voraussetzungen sind nicht schlecht: er kann sich recht frei im Lande bewegen, sein Gesundheits- und Ernährungszustand ist gut, er trägt die landesübliche Kleidung und einen Bart, seine Haut ist gebräunt, und er spricht akzentfrei arabisch  -  als Europäer ist er äußerlich nicht mehr zu erkennen. Als fahrender Händler und als Wanderdoktor gibt er sich aus und erreicht nach sechs Monaten und manchen Mißgeschicken endlich den kleinen Ort Qualida an der Atlantikküste. Am 10. Juli 1738 segelt er an Bord eines irischen Schiffes unbehelligt aus Marokko ab. Thomas ist nun dreiunddreißig Jahre alt, dreiundzwanzig Jahre Sklaverei liegen hinter ihm. Wie würde er in der Heimat empfangen werden? Am 15. Oktober 1738 landet er in Falmouth, dort wo er als elfjähriger Schiffsjunge auf der „Francis“ England verließ. Er wird als Held bejubelt, auch seine über den Sorgen alt gewordenen Eltern begrüßen ihn herzlich. 1740 publiziert er seine Erinnerungen „The history of the long captivity and adventures of Thomas Pellow in South Barbary”. Danach verliert sich seine Spur, ein Todesdatum ist nicht bekannt.
 
Eine wahre Begebenheit - exzellent erzählt
 
Giles Milton erzählt die fast unglaubliche und anrührende Geschichte von Thomas Pellow in seinem Buch „Weißes Gold“, erschienen 2010 im Stuttgarter Verlag Konrad Theiss. Der gelernte Journalist schreibt so spannend, daß man das Buch kaum wieder aus der Hand legen kann, hat man einmal angefangen darin zu schmökern. Stephan Gebauers hervorragende Übersetzung trägt allerdings nicht unerheblich zum Lesevergnügen bei. Milton hat gründlich recherchiert und eine Vielzahl von Quellen ausgewertet: Lebensberichte anderer Sklaven, Bittgesuche von Angehörigen an den englischen Hof und diplomatische Akten zu den Lösegeldverhandlungen, arabische zeitgenössische Berichte (soweit sie in englischer oder französischer Übersetzung vorliegen), zeitnahe Reiseberichte und Städtebeschreibungen. Entstanden ist eine außerordentlich gelungene Synthese aus Biographie, Abenteuergeschichte und Sachbuch, deren Inhalt weit über Pellows Lebensgeschichte hinausgreift und das uns einen heute oft außer Acht gelassenen Aspekt der Geschichte der Sklaverei wieder vor Augen führt.
 
Schizophrene Haltung zur Sklaverei
 
Deutlich wird auch, wie widersprüchlich sich Europäer im 18. Jahrhundert zur Sklaverei verhalten; Milton geht darauf ein: „Während ganz England das Leid der Weißen Sklaven nachempfinden konnte, kam niemandem in den Sinn, ähnliches Mitgefühl mit den schwarzen Sklaven zu empfinden, die in Afrika brutal verschleppt und von Guinea aus verschifft wurden.“ (S. 33) Die meisten Europäer sehen im Handel mit schwarzafrikanischen Sklaven um diese Zeit einen legitimen und vor allem einträglichen Erwerbszweig. Besonders sinnfällig wird diese Geisteshaltung am Lebenslauf des Amrumer Kapitäns Hark Nickelsen (1706 – 1770). 1724 gerät er in algerische Sklaverei, wird nach drei Jahren freigekauft und ist nach seiner Heimkehr mit 27 Jahren bereits Kapitän. In den 1740er Jahren  fährt er als Kapitän dänischer Schiffe auf der sogenannten „Dreiecksfahrt“: von Kopenhagen mit Waffen nach Guinea, von dort mit Sklaven in die Karibik und mit Zucker wieder zurück in die dänische Hauptstadt. Das bringt sehr viel Geld ein, und Hark Nickelsen stirbt als reichster Mann Amrums. – Der ehemalige Sklave ist selber zum Sklavenhändler geworden.
 
Giles Milton – „Weißes Gold“
Die außergewöhnliche Geschichte von Thomas Pellow und das Schicksal weißer Sklaven in Afrika

© Theiss Verlag 2010, 1. Auflage
288 Seiten. 14,5 x 21,7 cm. Gebunden mit Schutzumschlag.
ISBN 978-3-8062-2247-0, EURO 22,90
 
Literatur:
Martin Rheinheimer: Der Nachlass von Hark Nickelsen und Marret Harken (1786), in: Rundbrief des Arbeitskreises für Wirtschafts- und Sozialgeschichte Schleswig-Holsteins, Nr. 97, Juni 2008
 
Weitere Informationen unter: www.theiss.de


© Friederike Hagemeyer


[1] Arie des Pedrillo, „Entführung aus dem Serail“, 3.Akt