Ein unbekannter Herr

von Joachim Klinger
Ein unbekannter Herr
 

Erschrecken Sie nicht, mein Lieber!
 
Sie sind eingeschlummert, und es liegt mir ganz und gar fern, Sie zu stören.
Ich nähere mich Ihnen leise und behutsam; denn ein zartes Anliegen führt mich zu Ihnen: Ich möchte Ihnen danken.
Es ist mir ein dringendes Bedürfnis, dies zu tun. Und ich möchte nicht zögern. Auch ist meine Zeit bemessen. Sie verstehen... Die Gelegenheit könnte nicht günstiger sein. Sie schlummern mit entspannten Gliedern, Ihr Geist ruht und ist doch aufnahmebereit. Die Jalousie hält das Tageslicht ab, der Raum ist halb dunkel, sehr angenehm.
Es ist ruhig geworden im Hause. Die meisten Besucher sind gegangen. Die verbliebenen Verwandten und Freunde geben sich dem Mittagsschlaf hin.
Stille und Dämmerung - das brauche ich. Ich kann mich leichter bewegen, mei­ne Stimme kehrt zurück, leise und sanft. Für kurze Zeit darf ich mehr sein als ein flüsternder Schatten...
 
Und so bin ich gekommen, um Dank abzustatten.
 
Bemühen Sie Ihr Erinnerungsvermögen nicht zu sehr! Bleiben Sie ruhig! Ich bin der Herr, über den Sie heute Vormittag beim Betrachten alter Fotos liebenswürdige Worte sagten.
Zwischen den Bildern der Großeltern, Urgroßeltern, Tanten und sonstigen Ver­wandten tauchte mein Gesicht auf, und niemand kannte es.
 
Nein, ich bin nicht "Onkel Max", der Pate Ihres Großvaters Heinrich Friedrich Konrad Max, wie Ihre Mutter vermutete! Allerdings, eine flüchtige Ähnlichkeit mit ihm läßt sich nicht leugnen.
Auch der gute Freund Leo Ihres Großvaters Gustav bin ich nicht.
Freilich habe ich ihn gekannt und geschätzt. Gern würde ich mich der Freund­schaft Ihrer beiden Großväter rühmen. Prächtige Männer: dieser Heinrich, e­benso musisch wie wissenschaftlich begabt, und Gustav, "eine Seele von Mensch", wie man zu sagen pflegt.
 
Nun könnte ich mich vorstellen, aber ich bin sicher, Sie würden meinen Namen nicht kennen. Er würde keine Erinnerung wecken.
Leider! Ich bin durchaus bekümmert darüber.
Erlauben Sie mir das Geständnis, daß ich vergessen bin.
 
Ich blieb Junggeselle bis zum Tode und wurde dank der Fürsorge einiger Freunde ordentlich bestattet. Mein einziger Neffe, ein ziemlicher Nichtsnutz, trieb sich damals im Ausland herum.
Meine Haushälterin verbrannte Briefe und Fotos, nachdem mein Testament eröffnet worden war und das ihr zugedachte Legat nicht ihren Erwartungen ent­sprochen hatte.
Geschrieben und veröffentlicht habe ich nichts. So ist die Erinnerung an mich getilgt. Mein Name taucht nur noch in vergilbten Akten und abgelegten Listen auf, die keine Bedeutung mehr haben. Das ist schmerzlich, aber auch damit findet man sich ab.
 
Keine Hinterlassenschaft, kein Zeugnis, keine Spur... In meiner Jugend hatte ich mich für die Baukunst interessiert. Insbesondere Kirchen hatten es mir an­getan. Ich liebte es, in kleinen dämmerigen Gotteshäusern zu sitzen. Ich fühlte mich geborgen in schönen Gewölben und lehnte mich an die Säulen, betastete die Kapitelle, wenn ich sie erreichen konnte. Oder ich vertiefte mich in blasse Fresken, die der Welt Lebewohl zu sagen schienen.
Leider habe ich nicht studiert. Und das wäre wohl nötig gewesen, hätte ich über Sakralbauten schreiben wollen...
Also keine Spur, die ein Lebender entdecken kann und zu verfolgen beginnt. Vergessen!
 
Manchmal tröstet der Gedanke, nicht gestört zu werden. Kein unehrlicher Nach­ruf, keine falsche Würdigung. Es gibt keine wissenschaftlichen Streitigkeiten über Aufsätze oder Bücher, keine schwankenden Urteile. Schon gar nicht Pres­seberichte, die Vergangenes aufwühlen und beschmutzen.
Ich bleibe unbehelligt, werde nicht aufgeschreckt und belästigt.
 
Aber Sie glauben nicht, wie gut es tut, wenn plötzlich jemand etwas Richtiges, etwas Treffendes über einen sagt!
Sie taten es und waren dabei von einer taktvollen Höflichkeit, die den Unbe­kannten und Ungenannten geradezu beglückt.
Und Sie kannten mich doch nicht, hatten vielleicht, ja, wahrscheinlich niemals von mir gehört.
 
Während die anderen mich in die Ahnenreihe, in die Familie oder wenigstens in den Bekanntenkreis einzuordnen suchten, schwatzten oder ratlos gestikulierten, betrachteten Sie sinnend mein Gesicht und sagten - erlauben Sie, daß ich zi­tiere, denn diese Worte haben sich unauslöschlich in mein Gedächtnis einge­graben - sagten also, während Sie den Zeigefinger Ihrer linken Hand an die Nase legten:
"Ein gutes Gesicht, ernst, von einer gewissen Schwermut über­schattet. Der Bart verdeckt den Mund zum Teil, aber man ahnt doch, daß dieser Mund mit dem Wort zögert, daß er sich aber schließlich zu leisen und gedankenvollen Äußerungen öffnet. Ja, ein gutes Gesicht...".
 
Ach, mein Lieber, ich danke Ihnen! Ich weiß nicht, wie viele Jahre vergangen sind, seitdem jemand über mich sprach.
Mein Neffe fand nur einmal ein Wort, und das war häßlich genug. Er hielt seiner Frau mein Foto hin, das ihn zugleich als Knaben im Matrosenanzug an meiner Seite zeigte, und bemerkte: "Hinterlassen hat er mir so gut wie nichts, der werte Onkel."
Stellen Sie sich vor, er sagte "der werte Onkel"! Schrecklich! Subalternes Deutsch, Krämerstil! "Werter Herr, komme ich zurück auf Ihr Angebot vom so­undsovielten...".
 
Sie aber kannten mich nicht und wählten doch so feine Worte!
 
Glauben Sie mir, eine oberflächliche Schmeichelei hätte mich nicht veranlaßt, zu Ihnen zu kommen! Aber Ihr Auge las in meinem Gesicht wie in einem hinter­lassenen Brief. Könnte man meinen Lebensbericht befragen - der freilich nie geschrieben wurde, Sie fänden Ihr Urteil bestätigt.
Ich war ernst, vielleicht zu ernst, und damit nicht unterhaltsam. So wurde ich mehr geschätzt als geliebt. Darunter habe ich oft gelitten. Im locker scherzen­den Gespräch blieb ich stumm. Allenfalls gelang es mir, mich vielsagend lä­chelnd zurückzulehnen. So störte ich wenigstens nicht.
 
Ja, und meine Schwermut... Sie übte nur im Anfang Wirkung auf Frauen aus. Schwermut weckt Interesse, ja, Neugierde. Man vermutet eine unglückliche Liebe, eine unterdrückte Neigung, eine verborgene Leidenschaft. Liegt der Fall nicht so einfach, oder weicht der Schwermütige zurück, wenn man in ihn zu dringen sucht, dann schwindet die Anziehungskraft der Schwermut rasch dahin, dann erlischt das Interesse anderer sehr bald. Man empfindet die schwermütige Grundstimmung als Belastung des gegenseitigen Verhältnisses. Das geheimnisvolle Dunkel, das den Schwermütigen umgibt, wird zum düsteren Schatten.
Außerdem sprach ich wenig. Auch das haben Sie erkannt und mit freundlicher Schonung formuliert.
 
In der Tat hatte ich eine leise Stimme, die sich nicht gut bemerkbar machen konnte. Das zwang mich zur Konzentration meiner Gedanken in knappen Aus­sagen. Ich galt als wortkarg, als einsilbig. Wußten Sie, daß die Präzision im Ausdruck mehr Mißverständnisse auslöst als törichtes Geplapper? An einen kurzen Satz rätselt man herum, die Worte werden hin und her gewendet, um sie argwöhnisch zu deuten.
Gewiß, ich sprach nicht viel. Aber ich hatte durchaus etwas zu sagen. Ich hätte sogar manchen schwierigen Gedankengang verständlich machen können. Sie, mein Lieber, erleben sozusagen eine Rede von mir.
 
Ich war immer dazu in der Lage. Aber wo war die Gelegenheit? Wollte man mich überhaupt noch hören, nachdem man meine Schweigsamkeit akzeptiert hatte? Man schätzte meine "ruhige Art" und profitierte von meiner Kunst des Zuhörens. Ich war eigentlich immer ein guter Zuhörer, aufmerksam und teil­nahmsvoll zugleich. Dabei strengt dieses Zuhören ziemlich an und hält einen nicht selten von wichtigen Dingen ab. Manchmal hätte ich mich den Bekennt­nissen und Beschuldigungen, den Zweifeln und Klagen entziehen sollen. Manchmal war ich nahe daran zu rufen: "Also hören Sie, schließlich bin ich kein Beichtvater!" Aber ich konnte es nicht. Ich grübelte, ob und wie ich helfen sollte, welches Wort lindern oder stärken konnte.
Zum Glück erwartete man nur selten einen Rat oder eine Stellungnahme.
 
Die meisten Menschen schleudern ihre ungeordneten Gedanken und Gefühle heraus, reden sich müde und gehen ein wenig erleichtert davon. Manche ent­wickeln im Verlauf ihres Monologs eine Linie, finden eine Richtung für ihr zu­künftiges Verhalten. Deshalb verlassen sie einen einigermaßen befreit und danken sogar hin und wieder, ohne einen Ratschlag entgegengenommen, kaum mehr als ein begütigendes ermutigendes Wort empfangen zu haben.
 
Aber nun werde ich wohl geschwätzig und hoffe auf Ihre Nachsicht; denn Sie haben ein gütiges Herz und feine Lebensart. Glauben Sie mir, es ist lange her, daß ich gesprochen habe! Ich weiß jetzt, daß ich dies entbehre. Es hat mir gut getan zu reden.
Entschuldigen Sie die Länge meiner Ausführungen!
Leben Sie wohl!
 
Ihre Worte sind ein Schatz, den ich in die Stille meines derzeitigen Aufenthalts mitnehmen will.
Ich werde lange von ihm zehren.
Sehr lange...
 
 
© Joachim Klinger – Erstveröffentlichung in den Musenblättern 2010
Redaktion: Frank Becker