Ungerechter Tag

von Hanns Dieter Hüsch

© André Poloczek - Archiv Musenblätter
Ungerechter Tag

Heute w
ar ein völlig ungerechter Tag. Ich hab mich heute völlig daneben benommen, heute morgen. Heute morgen habe ich mich so daneben benommen, ich war so richtig, wie sagt man, ich war so richtig eigensüchtig. Sie kennen ja den alten Satz, den wir vor Jahrzehnten leider schon mal hatten ­- Gemeinsucht geht vor Eigensucht. Aber man kann nicht immer alles auf den Tag, oder vor allen Dingen auf die Augen schieben, obwohl mein Augenlicht in der letzten Zeit sehr nachgelassen hat. Also, es ist so, wenn einen der Optiker schon zum Augenarzt schickt, das ist schon gefährlich. Dann ist in der Branche etwas nicht in Ordnung. Jedenfalls, also, umgekehrt ist es natürlich noch schlimmer, wenn einen der Augenarzt zum Optiker schickt. Ich wollte nur sagen, wenn ich z. B. eine Tasse, gespült und abgetrocknet, persönlich gespült und selbst abgetrocknet habe, das kann ich seit dem 8. März, da war ja Weltfrauentag. Ja, das muß ich den Frauen immer sagen, die vergessen das meistens: Der 8. März ist der wichtigste Tag des Jahres! Also, ich ver­suche, die Tasse zurück in den Schrank zu stellen, da muß ich inzwischen schon mit Kimme und Korn arbeiten. Manchmal mehr mit Korn als mit Kimme, jedenfalls, ich schlage unweigerlich in letzter Zeit oft mit dem unteren Rand der Tasse gegen die Bordkante der Schrankplatte, ich meine, so was kann man aus­gleichen, da kann man mit leben, dann hat man eben nicht alle Tassen im Schrank, so sagt man ja auch, nicht wahr?!
 
Aber, wenn man schon drei Brötchen für vier Brötchen hält, das ist dann schon, also morgens, dann sollte man schon über sich nachdenken, dann sollte man schon seine Soziabilität näher untersuchen lassen, am besten von der eigenen Frau! Es war nämlich heute morgen so. Es lagen auf unserem Frühstückstisch, kun­terbunt, is ' n Lieblingswort von mir, kunterbunt, lagen also drei Brötchen auf dem Frühstückstisch kunterbunt herum. Und drei Brötchen, geteilt durch Mann und Frau - verzeihen Sie, durch Frau und Mann, das sind so kleine Prioritäten, durch Frau und Mann, dann bekommt jeder nach Adam Riese eineinhalb Brötchen. Aber zunächst, ich bitte Sie, macht man doch diese Rechnung gar nicht auf, zunächst hat man Hunger! Und schlägt zu und redet und erzählt und ist ganz Frühstücksmensch. Mal Käse, mal Wurst und Halli und Hallo und findet den Tag, die Zeit und die Welt ganz in Ordnung, alles ist in Butter. Man ißt drauf los, wie einem der Schnabel gewachsen ist, bis dann die eigene Frau ganz plötzlich fragt: »Wo ist eigentlich meine Brötchenhälfte?« Diese Frage scheint durch alle Stände zu gehen, habe ich den Eindruck. Hahaha! Klas­senlose Frage. »Ich habe nur ein Brötchen gegessen«, sagt dann die eigene Frau. »Ja«, sage ich, »das ist ja jetzt ganz dumm, dann muß ich wohl oder übel wohl zwei gegessen haben.« »Ja, dann mußt du wohl oder übel wohl zwei gegessen haben.« Und wenn Frauen so etwas dezidiert wiederholen, das ist ganz gefährlich, ganz gefährlich, dann sollte man gleich auf den Flur flüch­ten. Es gibt sogar Sätze, da ist es ratsam, eine Weltreise anzutreten. »Das Dumme«, hab ich dann zu meiner Frau gesagt, »ist ja nur, daß ich dir deine Hälfte nicht mehr zurückgeben kann. Die steckt jetzt hier in meiner Brust. Ich kenn mich da anatomisch nicht so aus.« »Das hätte ich mir ja denken können«, sagt meine Frau, »ich wollte doch noch Marmelade essen und zwar nicht auf
Graubrot, sondern auf meiner Brötchenhälfte.« »Ja«, sage ich, »das ist jetzt dumm, da hab ich falsch gerech­net - ich hab immer an vier Brötchen gedacht.« »Ja, an mich denkst du überhaupt nicht, immer nur an deine vier Brötchen.« »Ja«, sage ich, »das tut mir jetzt leid, und es soll bis zum nächsten Mal auch nicht wieder vorkommen.« Beim nächsten Mal hole ich einfach fünf Brötchen. Damit bin ich doch wenigstens aus dem Schneider, rein rechnerisch, moralisch weniger, aber rechnerisch schon, oder?



© Chris Rasche-Hüsch
Veröffentlichung aus dem Band "Meine Geschichten"
in den Musenblättern mit freundlicher Genehmigung