Bekannte Märchen mal etwas anders

Karla Schneider - "Wenn ich das 7. Geißlein wär´"

von Jürgen Kasten
Was wäre, wenn...?
 
Die Märchensammlungen der Brüder Grimm inspirieren heutige Autoren immer mal wieder zu neuen Interpretationen, Umdichtungen, mundartlichen Nacherzählungen und dümmlichen Übersetzungen in eine aufgesetzte Jugendsprache.
Die Grande Dame der Jugendliteratur, Karla Schneider, versuchte einen völlig anderen Weg. Zwei der bekanntesten Märchen, ´Rotkäppchen` einerseits und ´Der Wolf und die 7 Geißlein` andererseits, fügt sie zu einem Erzählstrang zusammen, versetzt sich in einen kleinen Jungen und läßt ihn sagen „Wenn ich der Jäger wäre, hätte ich es so gemacht:…“. In der Fortsetzung der Phantasiereise spielt er dann eines der Geißlein und fabuliert  „Wenn ich das 7. Geißlein wär´…“.
 
In diesem Spiel ist ´Ottinka Taube` sein Gegenpart und kontert ein ums andere mal mit einem „aber –„. Das gibt der Geschichte neue Wendungen, denn der Junge muß darauf reagieren und denkbare Fortsetzungen präsentieren. So entstehen etliche Märchenvarianten nach dem Motto ´was wäre wenn`.
Mal abgesehen davon, ob man die doch oft archaischen und blutrünstigen Märchen überhaupt kleinen Kindern zumuten darf, muß dieses Werk als grandios bezeichnet werden. Vorausgesetzt, die Kinder, für die es doch gemacht wurde, werden nicht alleine gelassen. Zunächst sollten die Ursprungsmärchen bekannt sein. Sodann werden einfühlsame Eltern sorgsam in Karla Schneiders Geschichte einführen und ganz dem Duktus folgend die kindliche Phantasie anregen. Während des (Vor)lesens werden den Kindern eigene Ideen in den Sinn kommen, wie man den Verlauf der Märchen abändern könnte, um zu einem guten, versöhnlichen Ende zu gelangen.
 
Der eindeutig pädagogische Ansatz des Vorhabens wäre damit erfüllt. Karla Schneider selber setzt auf eine gewaltlose Lösung der Geschichten. Der Wolf soll in die Gemeinschaft integriert werden. Doch geht das gut? Ein Wolf ist ein Wolf und bleibt ein Wolf. Auf Dauer kann er nicht auf Fleisch verzichten. So soll jeder leben, wie es seiner Natur entspricht und der Wolf in sein angestammtes Revier, in den Wald zurückkehren. Das macht nachdenklich - oder? Assoziationen drängen sich mir auf: Ein ganzes Volk soll in ein ihr fremdes Wertesystem gezwungen werden (Afghanistan). Geht das gut? – siehe oben.
 
Karla Schneiders Phantasiespiele werden von Stefanie Harjes Bildern wuchtig begleitet. Mittels Collage, Stempeldruck und Zeichnung schuf sie ein fast surrealistisches Szenario, das die kindliche Fantasie beflügelt, vielleicht aber auch ängstigt. Das Buch ist im engsten Sinne des Wortes phantastisch, benötigt aber unbedingt elterliche Begleitung. Für Erwachsene allerdings ist es ein wahrer Kunstschatz. 2009 wurde es mit dem „Luchs“ von Radio Bremen ausgezeichnet und vom Institut für Jugendliteratur zum „Buch des Monats März 2009“ gekürt. Zu recht, wie ich meine. Der vielerorts ausgesprochenen Empfehlung „ab 5 Jahren“, mag ich mich jedoch nicht anschließen.

1938 in Dresden geboren, arbeitete Karla Schneider in der DDR als Buchhändlerin und Journalistin. 1979 siedelte sie in die BRD um und lebt seit 1989 in Wuppertal. Ihre Bücher schreibt sie für Kinder und Erwachsene. Unter anderem wurde sie mit dem ´Alex-Wedding-Preis` und dem ´Astrid-Lindgren-Preis` ausgezeichnet.
Stefanie Harjes, Jahrgang 1967, stammt aus Bremen. Nach dem Studium der Illustration und Malerei arbeitet sie für verschiedene Buchverlage und Zeitschriften. Derzeit hat sie einen Lehrauftrag an ihrer ehemaligen Hochschule inne.
Beispielbild

Karla Schneider
Wenn ich das 7. Geißlein wär´
Mit Illustrationen von Stefanie Harjes
 
© 2009 Boje Verlag GmbH, Köln
Gebunden, 40 Seiten, 27X24,3 cm, ISBN: 978-3-414-82183-6
€ 14,95
 
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