Rede vom Leben

von Hanns Dieter Hüsch

© André Poloczek - Archiv Musenblätter
Rede vom Leben
 
Ich weiß nicht
Meine Damen und Herren
Inwieweit Sie inzwischen
Die Dinge verfolgt
Haben
Und ob Sie schon
Von meiner Rede über das Leben
Gehört haben
Die ich bis jetzt nur versuchsweise
Auf der Theresienwiese vor 9 römisch
Katholischen Bauern
Und in der Tiefebene von Ochadua in der
Provinz Wasadenna
Vor 2 ambulanten Schäfern
Und in der dänischen Kleinstadt
Goodeswilen
Von der Anklagebank
Eines dortigen Schnellgerichtes aus
Gehalten habe
Ich war dort wegen
Nächtlicher Verbreitung von
Unzusammenhängenden
Zusammenhängen und
Verständlicher Unverständlichkeiten
An einem Mittwoch im August
Festgenommen
Allerdings schon am Freitag
Im gleichen August
Aufgrund
Metaphysischer Tollpatschigkeit
Wieder freigelassen worden
 
Der Unterhaltungswert meiner Rede
Liegt etwa
Bei vollkommen unpopulär
Und die Einschaltquote
Bei -4 im Sommer und -3 im Winter
Ich selbst habe immer wieder
Vor meiner Rede gewarnt
Mehrere Angebote
Sie doch auch
Auf Tanzveranstaltungen
Oder Gesellschaftsabenden
Bei Kongressen von Anthropologen
Und Pfandfindern
Vorzutragen
Konnte ich bis jetzt
Mit der Begründung
Es entstünde ein falsches Bild
Erfolgreich abwehren
 
Meine Freunde
 
Das Leben besteht bekanntlich
Aus vielen Abschnitten
Einer der wichtigsten Abschnitte heißt
Kaffee trinken und aufs Klo gehen
 
Der Ernst des Lebens besteht nun darin
Daß viele sagen
Kaffee trinken und aufs Klo gehen
Das genügt mir nicht
Das scheint uns kein erfülltes leben
Zu sein
Das nur aus Kaffeetrinken
Und aufs Klo gehn besteht
Also gut dann schlage ich vor
Erwachsenenbildung und dann
Aufs Klo gehen
 
An dieser Stelle passierte es mir
In der Tiefebene von Ochadua
In der Provinz Wasadenna
Daß einer der beiden ambulanten Schäfer
Mir zurief
Was ist denn mit Kierkegaard
Tja sagte ich Gott
Auch da Kaffeetrinken und aufs Klo gehen
 
Das Leben ad zwei hat viele
Verschlungene Pfade
Manche Menschen werden schon
Nach drei Tagen
Getauft
Manche lassen sich erst
Mit 91 oder 98 Jahren
Taufen
Weil sie vermutlich eine lebenslängliche
Angst davor behalten
Ihr eigener freier Wille könnte
Nicht echt genug sein
Und es könnte ja immerhin möglich sein
Daß der gesamte Denkprozeß
Erst mit 120 Jahren abgeschlossen
Das heißt in sich gerundet sei
 
Auf der Theresienwiese hatte ich
Mit den 9 römisch katholischen Bauern
Eine längere Unterhaltung darüber
Ob Lodenbekleidung zeitlos oder nur
Vorübergehend sei
Ich sagte
Nichts ist zeitlos
Oder vorübergehend
Sondern alles ist zeitlos vorübergehend
Die modischen Trachtenanzüge
Wie sie ja bekanntlich jetzt
Von vielen Herren und Damen
Besonders im Süden
Hochstilisiert getragen werden
Sind ja nichts anderes
Als Selbstbewußtseinsanzüge
Jeder mittlere Vollstreckungsbeamte
In Passau zum Beispiel
Hat dadurch für ein paar Stunden
Das Gefühl
So eine Art
Erzherzog Johann von Klappenbach
Zu Espenlaub
Zu sein
Und
Und das ist das Wichtigste
Das sei ihm gegönnt
Habe ich zu den Bauern gesagt
Das sei ihm gegönnt
Er kann sonst nicht leben
 
An einem anderen Bild erklärt
Ich habe jetzt Lust auf Humanismus
Heißt nicht mehr und nicht weniger wie
Ich habe jetzt Lust auf Apfelstrudel
 
Montags sind wir humanistisch
Dienstags wollen wir Apfelstrudel
Und dann Kaffee trinken
Und aufs Klo gehen
 
Das Leben ad drei
Ist eine schleichende
Krankheit
Von Anfang an
Und alles was wir machen
Machen wir uns vor
Und alles was wir uns vormachen vom
Kartoffelschälen bis zur Kunst
Alles was wir uns vormachen
Ist wichtig
Wir könnten sonst nicht leben
 
Wir brauchen die Oper
Habe ich den Richtern
In der dänischen Kleinstadt
Goodeswilen
Gesagt
Wir brauchen die Oper
Um den Verfall der Zellen
Einigermaßen in den Griff zu bekommen
Wir brauchen den Walzer
Die Aprikose und die Volkshochschule
Damit wir sprechen können
Wir sprechen zwar alles nach
Und aneinander vorbei
Aber das sei uns gegönnt
Alles was wir reden und denken
Ist Operette
Um die schleichende Krankheit
Leben
leben zu können
 
Ich habe diese Rede
Übrigens meinem Freund
Erasmus von Högendorff
Gewidmet
Der vor 312 Jahren
An der Erkenntnis starb
Daß das leben
Bis zu Ende gelebt werden muß



© Chris Rasche-Hüsch
Veröffentlichung aus dem Band "Hagenbuch hat jetzt zugegeben & andere Rede- und Schreibweisen" (1979)
in den Musenblättern mit freundlicher Genehmigung