„Jedes Wort weiß etwas vom Teufelskreis“ (2)

Nobelvorlesung

von Herta Müller

Foto © Gisela Scheidler
Herta Müllers Nobelvorlesung
 
„Jedes Wort weiß etwas
vom Teufelskreis“ (2)

Mit einem Taschentuch endet auch eine andere Geschichte: Der Sohn meiner Großeltern hieß Matz. In den 30er Jahren wurde er zur Kaufmannslehre nach Temeswar geschickt, um den Getreidehandel und Kolonialwarenladen der Familie zu übernehmen. An der Schule unterrichteten Lehrer aus dem Deutschen Reich, richtige Nazis. Der Matz war nach der Lehre vielleicht nebenbei auch zum Kaufmann, aber hauptsächlich zum Nazi ausgebildet - Gehirnwäsche nach Plan. Der Matz war nach der Lehre ein glühender Nazi, ein Ausgewechselter. Er bellte antisemitische Parolen, war unerreichbar wie ein Debiler. Mein Großvater hat ihn mehrmals zurechtgewiesen: Er habe sein ganzes Vermögen nur durch Kredite von jüdischen Geschäftsfreunden. Und als das nichts half, hat er ihn mehrmals geohrfeigt. Doch sein Verstand war getilgt. Er spielte den Dorfideologen, drangsalierte Gleichaltrige, die sich vor der Front drückten. Er hatte bei der rumänischen Armee einen Schreibtischposten. Aber aus der Theorie drängte es ihn in die Praxis, er meldete sich freiwillig zur SS, wollte an die Front. Ein paar Monate später kam er nach Hause, um zu heiraten. Von den Verbrechen an der Front belehrt, nutzte er eine gültige Zauberformel, um dem Krieg für ein paar Tage zu entkommen. Diese Zauberformel hieß: Heiratsurlaub.
Meine Großmutter hatte zwei Fotos von ihrem Sohn Matz ganz hinten in einer Schublade, ein Hochzeitsfoto und ein Todesfoto. Auf dem Hochzeitsbild steht eine Braut in Weiß, eine Hand größer als er, dünn und ernst, eine Gipsmadonna. Auf ihrem Kopf ein Wachskranz wie eingeschneites Laub. Neben ihr der Matz in der Naziuniform. Statt ein Bräutigam zu sein, ist er ein Soldat. Ein Heiratssoldat und sein eigener letzter Heimatsoldat. Kaum zurück an der Front, kam das Todesfoto. Darauf ist ein allerletzter, von einer Mine zerfetzter Soldat. Das Todesfoto ist handgroß, ein schwarzer Acker, mittendrauf ein weißes Tuch mit einem grauen Häuflein Mensch. Im Schwarzen liegt das weiße Tuch so klein wie ein Kindertaschentuch, dessen weißes Viereck in der Mitte mit einer bizarren Zeichnung bemalt ist. Für meine Großmutter hatte auch dieses Foto seine Mixtur: auf dem weißen Taschentuch war ein toter Nazi, in ihrem Gedächtnis ein lebender Sohn. Meine Großmutter hatte dieses Doppelbild alle Jahre in ihrem Gebetbuch liegen. Sie betete jeden Tag. Wahrscheinlich waren auch ihre Gebete doppelbödig. Wahrscheinlich folgten sie dem Riß vom geliebten Sohn zum besessenen Nazi und erbaten auch vom Herrgott den Spagat, diesen Sohn zu lieben und dem Nazi zu vergeben.
Mein Großvater war im Ersten Weltkrieg Soldat. Er wußte, wovon er spricht, wenn er in Bezug auf seinen Sohn Matz oft und verbittert sagte: Ja, wenn die Fahnen flattern, rutscht der Verstand in die Trompete. Diese Warnung paßte auch auf die folgende Diktatur, in der ich selber lebte. Täglich sah man den Verstand der kleinen und großen Profiteure in die Trompete rutschen. Ich beschloß, die Trompete nicht zu blasen.
 
Aber als Kind mußte ich gegen meinen Willen Akkordeon spielen lernen. Denn im Haus stand das rote Akkordeon des toten Soldaten Matz. Die Riemen des Akkordeons waren viel zu lang für mich. Damit sie nicht von der Schulter rutschen, band der Akkordeonlehrer sie mir auf dem Rücken mit einem Taschentuch zusammen.
Kann man sagen, daß gerade die kleinsten Gegenstände, und seien es Trompete, Akkordeon oder Taschentuch, das Disparateste im Leben zusammenbinden. Daß die Gegenstände kreisen und in ihren Abweichungen etwas haben, das den Wiederholungen gehorcht - dem Teufelskreis. Man kann es glauben, aber nicht sagen. Aber was man nicht sagen kann, kann man schreiben. Weil das Schreiben ein stummes Tun ist, eine Arbeit vom Kopf in die Hand. Der Mund wird übergangen. Ich habe in der Diktatur viel geredet, meistens weil ich mich entschlossen hatte, die Trompete nicht zu blasen. Meistens hat das Reden unerträgliche Folgen gehabt. Aber das Schreiben hat im Schweigen begonnen, dort auf der Fabriktreppe, wo ich mit mir selbst mehr ausmachen mußte, als man sagen konnte. Das Geschehen war im Reden nicht mehr zu artikulieren. Höchstens die äußeren Hinzufügungen, aber nicht deren Ausmaß. Dieses konnte ich nur noch stumm im Kopf buchstabieren, im Teufelskreis der Wörter beim Schreiben. Ich reagierte auf die Todesangst mit Lebenshunger. Der war ein Worthunger. Nur der Wortwirbel konnte meinen Zustand fassen. Er buchstabierte, was sich mit dem Mund nicht sagen ließ. Ich lief dem Gelebten im Teufelskreis der Wörter hinterher, bis etwas so auftauchte, wie ich es vorher nicht kannte. Parallel zur Wirklichkeit trat die Pantomime der Wörter in Aktion. Sie respektiert keine realen Dimensionen, schrumpft die Hauptsachen und dehnt die Nebensachen. Der Teufelskreis der Wörter bringt dem Gelebten Hals über Kopf eine Art verwunschene Logik bei. Die Pantomime ist rabiat und bleibt ängstlich, und genauso süchtig wie überdrüssig. Das Thema Diktatur ist von sich aus dabei, weil Selbstverständlichkeit nie mehr wiederkehrt, wenn sie einem fast komplett geraubt worden ist. Das Thema ist implizit da, aber in Besitz nehmen mich die Wörter. Sie locken das Thema hin, wo sie wollen. Nichts mehr stimmt und alles ist wahr.
Als Treppenwitz war ich so einsam wie damals als Kind im Flußtal beim Kühehüten. Ich aß Blätter und Blüten, damit ich zu ihnen gehöre, denn sie wußten, wie man lebt und ich nicht. Ich redete sie mit ihren Namen an. Der Name Milchdistel sollte wirklich die stachelige Pflanze mit der Milch in den Stielen sein. Aber auf den Namen Milchdistel hörte die Pflanze nicht. Ich versuchte es mit erfundenen Namen: STACHELRIPPE, NADELHALS, in denen weder Milch noch Distel vorkam. Im Betrug aller falschen Namen vor der richtigen Pflanze tat sich die Lücke ins Leere auf. Die Blamage, mit mir allein laut zu reden und nicht mit der Pflanze. Aber die Blamage tat mir gut. Ich hütete Kühe und der Wortklang behütete mich. Ich spürte:
Jedes Wort im Gesicht
weiß etwas vom Teufelskreis
und sagt es nicht
Der Wortklang weiß, daß er betrügen muß, weil die Gegenstände mit ihrem Material betrügen, die Gefühle mit ihren Gesten. An der Schnittstelle, wo der Betrug der Materialien und der Gesten zusammenkommen, nistet sich der Wortklang mit seiner erfundenen Wahrheit ein. Beim Schreiben kann von Vertrauen keine Rede sein, eher von der Redlichkeit des Betrugs.
Damals in der Fabrik, als ich ein Treppenwitz und das Taschentuch mein Büro war, habe ich im Lexikon auch das schöne Wort TREPPENZINS gefunden. Es bedeutet in Stufen ansteigende Zinssätze einer Anleihe. Die ansteigenden Zinssätze sind für den Einen Kosten, für den Anderen Einnahmen. Beim Schreiben werden sie beides, je mehr ich mich im Text vertiefe. Je mehr das Geschriebene mich ausraubt, desto mehr zeigt es dem Gelebten, was es im Erleben nicht gab. Nur die Wörter entdecken es, weil sie es vorher nicht wußten. Wo sie das Gelebte überraschen, spiegeln sie es am besten. Sie werden so zwingend, daß sich das Gelebte an sie klammern muß, damit es nicht zerfällt.
Mir scheint, die Gegenstände kennen ihr Material nicht, die Gesten kennen nicht ihre Gefühle und die Wörter nicht den Mund, der spricht. Aber um uns der eigenen Existenz zu versichern, brauchen wir die Gegenstände, die Gesten und die Wörter. Je mehr Wörter wir uns nehmen dürfen, desto freier sind wir doch. Wenn uns der Mund verboten wird, suchen wir uns durch Gesten, sogar durch Gegenstände zu behaupten. Sie sind schwerer zu deuten, bleiben eine Zeitlang unverdächtig. So können sie uns helfen, die Erniedrigung in eine Würde umzukrempeln, die eine Zeitlang unverdächtig bleibt.
Kurz vor meiner Emigration aus Rumänien wurde meine Mutter frühmorgens vom Dorfpolizisten abgeholt. Sie war schon am Tor, als ihr einfiel, HAST DU EIN TASCHENTUCH. Sie hatte keines. Obwohl der Polizist ungeduldig war, ging sie noch mal ins Haus zurück und nahm sich ein Taschentuch. Auf der Wache tobte der Polizist. Das Rumänisch meiner Mutter reichte nicht, um sein Geschrei zu verstehen. Dann verließ er das Büro und schloß die Tür von außen ab. Den ganzen Tag saß meine Mutter eingesperrt da. Die ersten Stunden saß sie an seinem Tisch und weinte. Dann ging sie auf und ab und begann mit dem tränennassen Taschentuch den Staub von den Möbeln zu wischen. Dann nahm sie den Wassereimer aus der Ecke und das Handtuch vom Nagel an der Wand und wischte den Boden. Ich war entsetzt, als sie mir das erzählte. Wie kannst Du dem das Büro putzen, fragte ich. Sie sagte, ohne sich zu genieren, ich habe mir Arbeit gesucht, daß die Zeit vergeht. Und das Büro war so dreckig. Gut, daß ich mir eins von den großen Männertaschentüchern mitgenommen hatte.
Erst jetzt verstand ich, durch zusätzliche, aber freiwillige Erniedrigung verschaffte sie sich Würde in diesem Arrest. In einer Collage habe ich Wörter dafür gesucht:
Ich dachte an die stramme Rose im Herzen
an die nutzlose Seele wie ein Sieb
der Inhaber fragte aber:
wer gewinnt die Oberhand
ich sagte: die Rettung der Haut
er schrie: die Haut ist
nur ein Fleck beleidigter Batist
ohne Verstand
Ich wünsche mir, ich könnte einen Satz sagen, für alle, denen man in Diktaturen alle Tage, bis heute, die Würde nimmt - und sei es ein Satz mit dem Wort Taschentuch. Und sei es die Frage: HABT IHR EIN TASCHENTUCH.
Kann es sein, daß die Frage nach dem Taschentuch seit jeher gar nicht das Taschentuch meint, sondern die akute Einsamkeit des Menschen.
 

Text: Nobel-Stiftung 2009, © Herta Müller

Eine Übernahme von der Else-Lasker-Schüler-Gesellschaft mit freundlicher Genehmigung von Herta Müller, dpa
Foto © Gisela Scheidler