Die Busfahrt

von Birgit Bayer

Foto © my / Pixelio
Die Busfahrt
 

Die Haltestelle war doch auf der Hinfahrt hier. Auf der linken Straßenseite sind sie ausgestiegen, also müssen sie auf der rechten wieder einsteigen. Linksverkehr hier in England.
Dort ist auch ein kleines Zeichen für den bus stop. Keine Linie angezeigt,
kein Fahrplan, nur eine rätselhafte Zahl. 98/104 oder so. Egal. Irgendwann
wird er schon kommen.
Ziemlich einsam hier. Wo sind die anderen Passagiere?
Auf der gegenüberliegenden Seite, dort wo sie ausgestiegen sind, steigen jetzt Leute ein. Merkwürdig.
Hier steht niemand.
Auch keine Passanten hier. Sie warten.
Zwei Busse mit der Nr. 7 fahren vorbei. Mit einem Bus Nr. 7 sind sie hier angekommen.
Sie fahren an der Haltstelle vorbei, an der sie bei der Ankunft ausgestiegen sind. Merkwürdig.
Keine Wartenden hier und keine Passanten.
Sie warten.
Warten auf Godot, denkt sie.
Er ist ganz ruhig.
Still halten. Nicht bewegen. Alles fügt sich, wenn man selbst sich fügt.
Sich auf nichts einlassen. Das erfordert Aktivität.
“Das ist ja ätzend, sowas mag ich nicht”, sagt sie.
Jetzt stöhnt er ein wenig, sieht sie von der Seite an:
“Mein Gott, es ist doch nicht schlimm, mal 10 Minuten zu warten….”
Doch, es ist schlimm. Ihr Leben besteht daraus, denkt sie.
Warten ist ja nicht so unangenehm. Sie ist eigentlich sehr geduldig.
Warten kann ja durchaus Sinn haben. Aber hier ist es offensichtlich, daß irgendwas nicht stimmt.
Er scheint das nicht zu merken.
Er steht bequem da, wie festgewurzelt im Boden, die grüne Tasche um die Schulter.
Er bewegt sich nich. Schaut sich nicht um.
Was denkt er wohl? Oder denkt er garnichts?
Sie wird ungeduldig. Keiner da, den sie fragen könnte.
 
Da kommt ein Bus. Aber er hat die falsche Nummer. Er fährt auch vorbei ohne anzuhalten.
Das ist doch Unsinn, hier fährt offensichtlich kein Bus mehr...
 
Da biegt wieder einer um die Ecke. Er hält an der gleichen Stelle gegenüber.
es steigen keine Leute ein. Sind ja auch keine da.
Der Fahrer steigt aus. Gleich noch ein zweiter Doppeldecker.
Überall Busse hier, en masse. Nur für sie nicht. Zwei Busse stehen ihr
gegenüber, wie zum Spott. Auch der Fahrer des zweiten Busses ist ausgestiegen.
“Das ist doch Quatsch. Hier kommt kein Bus.”
“Mein Gott, kannst du nicht mal 5 Minuten warten?”
“ Es sind keine 5 Minuten ­ hast du einmal auf die Uhr geschaut?”
“Nein, habe ich nicht ­ „
„Ich habe auch nur deine 5 Minuten zitiert, die du immer anführst, egal wie lange wir irgendwo stehen.”
“Na gut, ich weiß es auch nicht, aber man kann doch mal ein paar Minuten
warten…Es kommt doch wirklich nicht auf die 5 Minuten an…”
Worauf kommt es dann an? Es sind ihre 5 Minuten. Wenn man all die 5 Minuten zusammenzählt, die sie schon gewartet hat…. Sie würde sagen, es sind ungefähr 10 Millionen 5 Minuten (Du hast überhaupt kein Sinn für
Zahlen).
Er scheint die Warterei zu genießen. Oder genießt er die Bewegungslosigkeit?
“Hab doch etwas Geduld.“
Wozu? Geduld, um fürs Warten nachher mit dem Bus belohnt zu werden?
Es gibt tausend Sachen, die man schon hätte machen können, anstatt hier dumm rumzustehen.
Gefängniswärter.
Sie wird festgehalten. Gefangen gehalten.
Sie läßt sich festhalten. Sie läßt sich gefangen halten.
Sie sind ein eingespieltes Team.
 
Aber sie wird unruhig. Früher hat sie Stunden gewartet. Nun ist sie ungeduldig.
“Man könnte einen Busfahrer fragen….” Zaghaft.
“Dann tu es doch,” kommt es eisig.
Sie gibt sich einen Ruck, geht über die Straße.
“Es ist gar kein Fahrer im Bus”, ruft er ihr triumphierend nach, als sie mitten
auf der Fahrbahn steht. Das hat sie nicht gehört.
Aber es ist wirklich niemand im Bus. Beide Busse ruhen sich aus. Die Fahrer
irgendwo. Ein dritter Bus steht dort ganz hinten vor den beiden leeren Doppeldeckern. Mit erleuchteten Bremslichtern. Die Fahrertür ist geöffnet. Sie geht darauf zu, da erlöschen die Bremslichter, die automatische Tür schließt
sich. Rennen mag sie nicht. Sie denkt an den hämischen Kommentar, wenn er sie erfolglos hinter dem Bus herlaufen sieht.
Sie schlendert zurück über die Straße. Enttäuscht. Sagt nichts. Er wartet. Gelassen. Geduldig. Sie stiehlt sich neben ihn, auf den ihr zustehenden Platz.
Wann kommt das Leben auch zu ihnen?
Direkt vor ihnen die Linksabbiegerspur der Autos. Sie stoppen direkt vor ihnen.
Familien. Singles mit lärmendem Autoradio. Offene Wagen. Sommer, Sonne.
Taxis.
Sie halten vor ihnen, warten auf grünes Licht.
“Ich fahre gleich mit dem Taxi,” sagt sie entschlossen.
“Ja natürlich,” höhnt er. “Mach doch, was du willst.”
Ihr fällt plötzlich auf, daß er sich zurückhält. Er sagt nun nicht mehr, daß sie spinne, weil das viel zu teuer ist. Sie hat geerbt. Sie hat eigenes Geld. Schon lange. Aber plötzlich fühlt sie das  im Bauch.
Und sie fährt auch gleich mit dem Taxi. Mit dem nächsten, das sich in ihre Nähe wagt.
 
Endlich fährt der weiße Lieferwagen fort, der ihr die Sicht versperrte. Sie konnte nur über sein Dach hinwegspähen und sah immer wieder hoffnungsfroh Busse ­ aber es waren die, die am Ende der Straße fortfuhren, nicht die, die zu ihnen kamen. Jetzt kann sie die ganze Straße sehen.
Drüben auf der Straße zwei Männer. Einer im hellblauen Hemd. Ist er ein
Busfahrer? Die beiden kommen langsam auf sie zu. Nein, auch Möchtegern-Passagiere.
„Kommt hier der Bus?“
Er zuckt mit den Schultern. Wir wissen es nicht.
„Warten Sie schon lange?“
10 Minuten, sagt er. Sie stehen hier sicher bereits eine halbe Stunde.
Nach weiteren 5 Minuten überquert der eine die Straße. Er geht auf zwei Männer zu, die auf einem Mäuerchen sitzen. Oh Mist. Sind das etwa die beiden Busfahrer? Wieso hat sie die nicht gesehen?
“Die hätte ich doch auch fragen können,” murmelt sie vor sich hin.
Die beiden jungen Männer kommen zurück, direkt auf sie zu, lächeln.
 Er reckt den Kopf vor, schiebt mit kurzem Ruck das Kinn nach vorne.
“Oben am Ende der Straße”, sagt der eine. “Dort fährt der Bus ab.”
Sein Gesicht ist steinern.
“Aber London liegt doch dort,” zeigt er die andere Himmelsrichtung an.
Er bewegt sich nicht von der Stelle.
Ach. Das hat er ihr nicht mal gesagt, daß er deshalb so festgewurzelt hier
steht.
Der junge Mann sieht ihrem Mann ins Gesicht. Er verliert seine Unbefangenheit.
“Lets take a chance,” sagt er ungewiß.
Busse machen bekanntermaßen manchmal Umwege, um ans Ziel zu kommen, denkt sie.
Sie laufen ans Ende der Straße, wo sie bereits drei 7er Busse hat halten
sehen. Eine Minute später kommt der Bus.
Sie steigen ein. Der Bus fährt sofort los.
Sie geht schnell nach oben und bekommt oben die erste Sitzbank. Das ist schön.
Er kommt nach.
Sie kann es nicht lassen und sagt, dass er wahrscheinlich bis in die späte Nacht dort gestanden hätte.
“Man kann doch auch mal was tun.”
“Ach ja.... du könntest ja auch mal was tun,“ trieft er voll Ironie.
Aber stimmt ja, du wärest ja mit dem Taxi gefahren....”
“Du würdest heute noch in Berlin am Rondell stehen, nach 5 Monaten, weil du
nicht auf die Idee gekommen bist, daß man ne Haltestelle verlegen kann“, sagt sie giftig. „ In solchen Dingen bist du wirklich grauenhaft unflexibel.”
Und sie denkt daran, wie er im Garten steht und stundenlang halbe Bäume mit der Schere klein schneidet, anstatt den Nachbarn nach dem Häcksler zu
fragen.
Er schweigt, verbissen.
Sie ist die Gifthexe. Er der Eismann.
Der Bus macht einen kleinen Umweg von etwa einer Stunde. Ihr erster Stock
raschelt durch das Grün von Kastanienbäumen, vorbei an Bauerngärten voll Rittersporn, Cosmea und Digitalis.
Sie schaut in Wohnzimmer. Ein Golden Retriever steht im Garten und will ins Haus. Er wackelt mit dem Schwanz freundlich die Glastür der Terasse an. Er sollte lieber bellen, denkt sie.
Die Sonne scheint ihr ins Geicht. Es ruckelt so schön. Sie schläft ein, leises englisches Stimmgemurmel hinter ihr.
Nach einer halben Stunde wacht sie wieder auf. Sie sind im City Center London.
Ihr Zorn ist verflogen. sie fühlt sich warm und zufrieden.
“Das war ja ne lange Fahrt. Aber eigentlich ganz schön. Sonnig und ruhig.”
Friede.
Sie sind ein eingespieltes Team.
 
 
© Birgit Bayer – Erstveröffentlichung in den Musenblättern 2010