Ein herrlicher Morgen

von Karl Otto Mühl

Foto © Frank Becker
Ein herrlicher
Morgen
 
 
Der Samstag-Morgen hat überhaupt nicht vielversprechend angefangen. Draußen ist es feucht, der Himmel ist verhangen, die Wälder, auf die ich zur Fahrt zur Bäckerei blicke, verkünden gelb und braun den Herbst. Die Bäume am Straßenrand beugen sich unter Windböen.
Und doch wird es nun nach und sehr lebendig.
 
An der Bäckerei angekommen, erlebe ich beim Aussteigen die erste Überraschung: Der alte, graustoppelige Mann, der sich immer so lauthals an die Öffentlichkeit wendet, will gerade abfahren und schwingt sich auf ein gelblackiertes Quad. So ein alter Mensch, denke ich, und der ist so waghalsig. Hat er keine Familie, keine Frau? So breit sind diese Dinger ja nicht, daß man nicht damit umfallen könnte. Und überhaupt – ich diskutiere kurz mit mir selbst über Verteilungsgerechtigkeit: Wieso hat er das und ich keines? Er hat nämlich außerdem ein Auto. Das Geld sollte man besser für die Kinder in Afrika einsetzen.
Aber das Altmännergesicht reckt sich freudig den kühlen Sonnenstrahlen entgegen, die inzwischen zaghaft zwischen den Wolken hindurch huschen. Auch das zählt in dieser Welt.
 
Ich lobe ihn, behaupte, dies sei ein lustiges, wundervolles Fahrzeug, und ich sehe ihn dabei stolzer und stolzer werden. Es gebe nichts Schöneres, sagt er, als damit bei Sonnenschein über die Landstraßen zu fahren. Bestimmt hat er manchmal hohen Blutdruck oder gar Drehschwindel, denke ich. Er macht sich was vor, er ist eine Scheinpersönlichkeit.
Und seine Frau, sage ich harmlos, nicht wahr, die vertraue doch seiner Fahrkunst völlig, die mache sich doch sich wohl keine Sorgen, wie?
„Die? Die hat doch auch ein Quad, ein knallrotes. Wir fahren hintereinander durch die Gegend, bis hinauf nach Mecklenburg, da haben wir einen Hof geerbt.“
„Wie alt ist denn Ihre Frau?“ frage ich fassungslos. Die sei etwas jünger als er, antwortet er, sie sei erst zweiundsiebzig.
Und rattert davon. Ich muß mir eingestehen, daß er nicht nur herumpoltert, sondern sich allerhand zutraut.
 
Drinnen am riesigen Dreieckstisch bestelle ich mir, weil heute ja ein besonderer Tag ist, nämlich Samstag, darum bestelle ich mir ein Brötchen mit heißem Leberkäs. Aber die Boulevardzeitung muß ich gleich wieder zusammenfalten, denn acht Muskelmänner drängen herein, umkränzen mich am Dreieckstisch.
„Am Samstag?“ frage ich erstaunt und erfahre, daß irgendwo eine Rohrleitung defekt ist, da mußten sie ausrücken. Die schwarzgekleideten Rohrspezialisten umringen mich hoch ragend. Am höchsten, mehr als eine Haupteslänge größer als ich, ragt einer vor mir auf, aber der sieht gutmütig aus.
„Jetzt kriegen Sie sicher Angst“, sagt er, „wenn Sie von so einer Menge eingezwängt werden.“ „Nur vor Ihnen“, antworte ich, „weil Sie so gefährlich lang sind.“
 
Alle lachen, auch die Bäckerin. In diesem Augenblick bin ich eindeutig Sieger, ein Rentner, der furchtlos einer Horde kraftvoller Männer entgegen tritt. Das tut gut.
Als ich später  draußen in mein altes Auto gleite, überprüfe ich kurz, ob ich dieses Siegergefühl zuhause durchhalten werde.
Es dürfte schwierig werden.



© Karl Otto Mühl - Erstveröffentlichung in den Musenblättern 2009