Gedankensenke

Zuviel von Zuwenig oder Wo ist die Welt? - Uwe Johnsons Verzicht auf sein erstes Buch

von Andreas Steffens

Foto © Zbigniew Pluszynski

Gedankensenke

Eine Kolumne von Andreas Steffens

senke eine ausgehöhlte form, andern dingen darin ihre gehörige gestalt zu geben’ Jacob und Wilhelm Grimm, Deutsches Wörterbuch


Zuviel von Zuwenig -

oder Wo ist die Welt ?

Uwe Johnsons Verzicht auf sein erstes Buch


Für R.P.

Zu ihrer Geschichte gehört der – wenig gewürdigte, doch denkwürdige – Umstand, dass die von ihnen als erste geschriebenen Bücher selten auch die erstveröffentlichten von Autoren sind. Oft folgen sie später nach, wenn andere Erfolg gehabt haben und die den meisten Erstlingen anhaftenden Schwächen den erworbenen Rang ihres Autors nicht mehr in Frage stellen können. Dann kann man sich ganz auf die Wahrnehmung der in ihnen angelegten, in anderem inzwischen überzeugend eingelösten, ‚Versprechen’ konzentrieren.

Manch einer aber sah seinen Erstling auch nie gedruckt. So erging es Uwe Johnson. Seine >Ingrid Babendererde: Reifeprüfung 1953< erschien erst 1985 als erste Veröffentlichung aus dem Nachlaß des ein Jahr zuvor Verstorbenen.

Es war so gekommen, weil der, der dann sein Verleger werden sollte, dem, der er gerne geworden wäre, vom Druck dieses Erstlings vehement abgeraten hatte. Peter Suhrkamp, von Johnsons Leipziger Lehrer Hans Mayer wohlwollend vorbereitet, hatte dem jungen Schriftsteller, der ihm das Manuskript daraufhin geschickt hatte, am 11. Juni 1957 geantwortet: „Es juckt mich, ein Buch daraus zu machen, und zwar sollte das Buch möglichst noch im Herbst herauskommen. Wir haben also gar nicht mehr viel Zeit zu verlieren. Vor der endgültigen Entscheidung möchte ich aber doch eine Begegnung mit ihnen haben“.

Die kam bald darauf in Berlin zustande. Als Johnson in Suhrkamps Zimmer auf ihn wartete, ahnte er nicht, dass es in dem bevorstehenden Gespräch nicht mehr um die Veröffentlichung, sondern um deren Ablehnung gehen würde.

Fünf Jahre später wusste er, warum. In seinem Beitrag für die Anthologie >Die Begegnung. Autor – Verleger – Buchhändler – Leser< der Berliner Buchhandlung Elwert und Meurer teilt er mit, was er seitdem erfahren hat. „Bevor der alte Suhrkamp im Juli 1957 von Frankfurt a.M. nach West-Berlin flog, riet sein Mitarbeiter Siegfried Unseld ihm noch vor dem Durchgang zur Maschine dringend ab, mein Manuskript ‚Ingrid Babendererde’ anzunehmen: darin komme so viel Segeln und Natur vor, da sei die Ideologie von Blut und Boden“ (Schicksalhaft, 7).

Der Patriarch hält auf das eigene als das alleinige Urteil – und verkehrt das Argument der Ablehnung seines Assistenten in ein eigenes Lob des Autors, dem er beibringen will, noch etwas warten zu sollen, einer zu werden: „ausdrücklich lobte er die Art, in der darin die Natur vorkam und das Segeln beschrieben war“ (Schicksalhaft, 7). Um, wenn schon keinen Wortbruch – denn zugesagt hatte er ja noch nicht, nur wissen lassen, er neige stark dazu - , so doch einen so erheblichen Sinneswandel zu begründen, bedurfte es eines schwererwiegenden Argumentes, in dem sich alle ernsthaft möglichen Bedenken bündeln liessen. Ich bin mir sicher, dass „der alte Herr, der den Besucher mit ausgesuchter, verschollener Höflichkeit begrüßte“, in dem Moment, in dem er das Zimmer betrat, in dem er erwartet wurde, dieses Argument noch nicht hatte. Das würde erklären, dass er „den Verfasser sogleich an(hielt), an der Ablehnung seines eigenen Manuskriptes mitzuarbeiten“ (Schicksalhaft, 7). Während er, „bequem zurückgelehnt in einem korrekten grauen Anzug, mit abgetragenen Pantoffeln wippend“ den „jungen Menschen vor ihm“ nach dessen Lebensumständen befragt, verdichtet der Eindruck, den er dabei von deren Ärmlichkeit erhalten haben mag, sich zu dem noch fehlenden rettenden Argument: „Mangel an Welt“.

Aus dem Zuviel des Falschen der ernsthaften Verurteilung des Assistenten hat die stumme Widersetzlichkeit des Verurteilten, der sich auch durch Aggression und offenen Streitversuch nicht zu Gegenwehr herausfordern lässt, in deren Verlauf dem Alten womöglich ein anderes Argument zugewachsen wäre, eines, das es ihm erlaubt hätte, über seinen Schatten zu springen, und zum ersten Impuls zum Druck zurückzukehren, worauf er, möglich wäre es, sogar gewartet haben mag, was die Heftigkeit seines Streitversuchs erklären würde, ein Zuwenig des Richtigen werden lassen.

Der „Mangel an Welt“ ist ultimativ. Weder gibt es etwas dagegen, noch darüber hinaus zu sagen. Außer der Versicherung, die die provinzielle Angst vor dem Provinziellen eingibt, Provinzialität sei damit nicht gemeint:  Mangel an Welt sei nicht zu verstehen in einem Gegensatz von Hauptstadt und Provinz, da hülfen auch nicht Aufenthalte im Ausland, da fehle Weite des Lebensbewusstseins, vielleicht sei die aber neuerdings in der europäischen Literatur nicht mehr zu erreichen“ (Schicksalhaft, 7).

Dieses Maßstabs einer höchsten Anforderung unversehens habhaft geworden zu sein, reicht aber noch nicht aus, dem Patriarchen das eigene Unbehagen an seinem Sinneswandel zu verscheuchen, dessen wahre Beweggründe ihm selbst eines offenen Einbekenntnisses nicht fähig erschienen sein mögen. So verfällt er darauf, den soeben noch erwartungsvollen, nun ernüchterten Beinaheautor dazu zu zwingen, sich dieses Argument zueigen zu machen: er will nicht verwerfen, ohne dass der Verworfene zustimmt.

Enttäuschung und Beschämung wurden nicht so groß, dass Johnson nicht hätte wahrnehmen können, um was es sich tatsächlich handelte: schlicht um das doppelte Ressentiment des alten Westlers gegenüber dem jungen Ostler. Eine Woche nach der Fehlbegegnung schreibt er an Hans Mayer – in vollendet altmodischer Höflichkeit, die ihn seine persönliche Hauptsache, die für den großen Mann in Leipzig nur eine nebensächliche unter vielen sein konnte, nur in einem P.S. zu seinem Brief ansprechen läßt, das allerdings doppelt so lang wie das eigentliche Schreiben, eine kunstvoll belanglose Ferienplauderei, ausfällt, keinen Zweifel daran zu lassen, wie die Gewichtung tatsächlich liegt - : „An dieser Kritik bleibt mir nichts anzuerkennen. So ist es. Es wäre zu erklären mit der Borniertheit des Ost/West-Konfliktes“ (Schicksalhaft, Erläuterungen, 133).

Doch wirkliche Patriarchen kennzeichnet, dass sie sich durchsetzen. Es ist Johnsons „unkritische Verehrung“ für ihn, die Suhrkamp sich durchsetzen lässt. Ich brachte es nicht fertig, nicht wieder zu ihm zu gehen“ (Schicksalhaft, 8).

Noch zweiundzwanzig Jahre danach macht Johnson sich Suhrkamps Verlegenheitspseudoargument von 1957 zu eigen. Und bekräftigt es selbst noch einmal in der äußersten möglichen Zuspitzung des Weltmangels zur Lebensverfehlung, auf die der Alte in seiner Verlegenheit, doch nicht als bornierter Provinzler dazustehen, verfallen war.  Die zweite seiner Frankfurter Poetik-Vorlesungen widmete er ganz dem Komplex ‚Ingrid Babendererde’. Die technische und ästhetische Kritik, die er an seinem verhinderten Erstling übt, gipfelt in einer Geste stoischer Selbstverwerfung: „Nun mochte die Geschichte funktionieren, aber sie hatte das Leben verloren“ (Johnson, Begleitumstände, 88).

Siebenundzwanzig Jahre später kehrt Unseld die Umkehrung seines eigenen Argumentes von 1957 noch einmal um, und macht sich Suhrkamps Un-Argument des ‚Mangels an Welt’ zueigen: „mit einem Wort zu wenig Welt“ (Unseld, Nachwort, 258) – auch ein später Triumph des Patriarchen, den er beerbte.

Bei alldem wundert es nicht: „Uwe Johnson liebte es nicht, auf seinen ersten Romanversuch angesprochen zu werden“ (Unseld, Nachwort,  251).

So wurde zwei Jahre später, 1959, sein zweites sein erstes Buch: >Mutmassungen über Jakob<.  Johnson hatte es im März nach Frankfurt geschickt. Dort starb Peter Suhrkamp am 31. März. Da es den, der das erste hatte verlegen wollen, nicht mehr gab, verlegte der, der davon abgeraten hatte, das zweite des jungen Autors als dessen erstes in dem Verlag, der nun seiner war.

Das kann als eine literaturgeschichtliche Reminiszenz für sich stehen. Man kann aber einen Schritt weiter gehen, und den Vorwurf des Weltmangels, der in ihr die Hauptrolle spielt, ernst nehmen. Johnson jedenfalls muß das getan haben, sonst hätte er ihn nicht seinerseits mit dem Eingeständnis ästhetischer Selbstkritik der Lebensferne bekräftigt noch, nachdem er ein anerkannter Autor der detailliertesten literarischen Weltfülle von Weltrang geworden war.

Dann wird der Kampf um seinen Erstling und sein Verzicht auf ihn zu einem Lehrstück darüber, wie es Welt als gemeinsame Erfahrung überhaupt nur geben kann.

Wer die Welt in einem Kunstwerk, oder sonstwo, vermisst, der vermisst seine Welt.

Die Aversion der beiden ‚Westler’, die, kein Jahrzehnt nach dem Ende des Regimes, das die deutsche Kultur von der Welt nicht nur abgeschnitten, sondern in Minderwertigkeit gezwungen hatte, gerade den Höhepunkt ihrer Bemühungen erreichten, wieder Anschluß an die übrige Welt zu finden, gegen den ‚Ostler’, galt dessen Welt. Als er mit siebenundzwanzigjähriger Verspätung doch noch zum Verleger von Johnsons erstem Buch wird, kann Siegfried Unseld das nicht mehr verkennen. „In ‚Ingrid Babendererde’ war mir zu viel von der Freien Deutschen Jugend die Rede, vom Ritual der Parteisitzungen und der Freundschaftsbegrüßungen, vom Symbolgehalt eines Mitgliedbuches, kurz, ich wehrte mich gegen eine parteiische Atmosphäre, der ich hoffte, für immer  entronnen zu sein, und irrtümlicherweise wurde mir diese Darstellung nicht als Kritik des Autors deutlich“ (Unseld, Nachwort,  258 f.).

Was aber unterscheidet die mecklenburgische Kleinwelt dieses Romans von der amerikanischen, wie sie von einem Thomas Wolfe, einem William Faulkner, einem Ernest Hemingway beschrieben wurde, deren Bücher seine Kritiker gerade, zur weltliterarischen Moderne aufschließend, lasen und verlegten, außer, dass ihre Schilderung von einem unbekannten Autor stammte? Warum sollte in dieser ‚mehr’ Welt stecken als in jener? Warum sollte aus mecklenburgischer Erfahrung sich nicht ebenso gut ‚Weltliteratur’, im doppelten Sinn, machen lassen, wie aus amerikanischer, oder französischer, englischer, spanischer, welcher immer?

Zwanzig Jahre später sollte es dieser Autor, der es nicht erlebte, seinen Erstling als Buch gedruckt zu sehen, bewiesen haben. Im wesentlichen mit denselben literarischen Mitteln, derer der angehende Schriftsteller sich bereits bediente, die von denen der Vorbilder, die seine Kritiker ihm hinstellten, so weit nicht entfernt waren. Wenn eines, dann sind die >Jahrestage< ein Werk voll von Welt, so voll, dass es unübersehbar wird, dass die ‚Provinzialität’ jedes Alltagslebens keinen Unterschied macht zwischen der Metropole New York und dem Dorf Jerichow.

Die quantitative Wendung des Berliner Arguments von 1957 ist denn auch eine Verbergung des eigentlichen Urteils: was Suhrkamp wie Unseld tatsächlich störte, war kein Zuwenig an Welt, sondern ein Zuviel der falschen. Ihre Fülle wird in einem literarischen Kunstwerk am ehesten entdeckt und desto höher geschätzt, je deutlicher die Welt, die es schildert, von derjenigen unterschieden ist, in der seine Leser leben: die Welt ist immer eine andere als die eigene.

Erhart Kästner, der Laudator zum Berliner Fontanepreis, den Johnson ein Jahr nach Erscheinen der >Mutmassungen über Jakob< erhält, der von der ‚Ingrid Babendererde’ nichts wissen kann, und die >Mutmassungen< für dessen erstes Buch halten muß, lobt in der ihm eigenen ästhetischen Unbestechlichkeit an diesem gedruckten Erstling gerade den Weltgehalt, dessen Fehlen Vorwand für die Verhinderung des tatsächlich ersten gewesen war. Gerade die Orts- und Milieugenauigkeit beeindruckt ihn, deren Gegenstände dem Westler so schnell unendlich fremder geworden sind als alle fremden Länder der Welt, in die er inzwischen ungehindert reisen kann, während es nach Mecklenburg keine offenen Wege mehr gibt.

Aus der Schilderung dieser einen, kleinen, so nahe liegenden und in unvermutet exotisch gewordene Ferne entrückten Welt, die ein Jahr später auf eine Generation hinaus hinter einer todesbewehrten Mauer verschwinden wird, sieht Kästner geradezu ein Modell zum Verständnis der Welt hervortreten. „Die Welt ist zur hochkomplizierten, geplanten, überplanten, zur unverständlichen Fremde geworden. Falsche Wegweiser, Irrlichter, Phantome im Nebel, die sich beim Näherkommen als Fälschung erweisen; Verlässliches, Unverlässliches durcheinander. Überall Spuren: aber wie viele von ihnen sind falsch? Wie viele verlieren sich, wie viele führen ins Leere? Die Welt als Vexierschloß: auch mit dem richtigen Schlüssel kann man nicht schließen“ (Kästner, Vexierschloß, 176). Zu solcher Einsicht verhilft kein Blick provinziell enger Behaglichkeit.

Die Welt ist immer eine; und als eine immer die Welt eines einzelnen. Eine Welt, die als ‚die’ Welt vermisst werden kann,  gibt es nur als eine, die für irgendwen ‚seine’ Welt ist. Nur als diese Welt geschildert, die ‚meine’ ist, gibt es ‚Welt’ für alle. Deshalb kann der Blick aufs Eigene gar nicht genau genug sein, will man erfahren, was über das Eigene hinausliegt.

Überall ist Welt. Sogar in Mecklenburg. Sogar in Manhattan. Finden aber wollen wir sie immer anderswo als dort, wo wir sie sowieso haben.


Literatur:

Johnson, Uwe, „Schicksalhaft“ war es nicht (1965), in: ders., Portraits und Erinnerungen, Frankfurt/M 1988,  7-9; Erläuterungen:  129-134
Johnson, Uwe, Begleitumstände. Frankfurter Vorlesungen, Frankfurt/M 1986
Johnson, Uwe, Ingrid Babendererde. Reifeprüfung 1953, Frankfurt/M 1985
Kästner, Erhart, Die Welt als Vexierschloß. Rede für Uwe Johnson zum Berliner Fontanepreis (1960), in: ders., Was die Seele braucht. Über Bücher und Autoren, Frankfurt/M 1994; 1998,  174-177
Unseld, Siegfried, Nachwort zu: Johnson, Ingrid Babendererde, 251-265


© Andreas Steffens - Erstveröffentlichung in den Musenblättern 2007