Was Bodos Frau zum Geruch von Fräulein Tückmantel sagte

Eine amüsante Erzählung

von Karl Otto Mühl

Foto © Frank Becker

Was Bodos Frau zum Geruch
von Fräulein Tückmantel sagte


Ich werde gleich im Zusammenhang mit meinem Kollegen Bodo und Fräulein Tückmantel auf Gerüche zu sprechen kommen. Diese Sache hatte  wahrhaft schicksalhafte Auswirkungen, ja, sie hat sie sogar noch. Wenn ein Geruch – wie hier der von Fräulein Tückmantel – sich so auf das Leben eines Menschen auswirken kann wie auf das von Bodo, und wenn gleichzeitig das Leben seiner Frau völlig davon bestimmt wird, dann lohnt es sich, näher darauf einzugehen. Zumal auch ich nicht von den Auswirkungen verschont geblieben bin.

Zunächst muß ich bemerken, daß mich Gerüche interessieren, die mich an etwas erinnern oder mein Leben begleitet haben. Gerüchen, die mein Leben begleitet haben, vergesse ich nicht. Das ist der Grund, warum ich inzwischen versucht habe, an Fräulein Tückmantel zu riechen. Sie ist mir jedoch nicht nahe genug gekommen.

Heute hatte es den ganzen Tag geregnet. Sowohl im asphaltierten als auch im bloß festgestampften Teil des Fabrikgelän­des bildeten sich Lachen und blinkten mich an wie ferne Signale, wenn ich aus dem Fenster blickte. Die Wolken stürmten flach über die Landschaft, Regen und Wolken und diesige Luft deckten die Fabrik zu. Als mein Kollege Bodo nach kurzem, hartem Anklopfen die Tür aufreißt, ist das als wenn ein Steward im Sturm bei schlingerndem Schiff in die Kabine kommt. Bodo fragt, ob er sich setzen darf. Ich schaue auf die Knö­chel seiner Hand, die so hart angeklopft hat.
Ich frage ihn, ob er Schwierigkeiten habe. Ja, doch. Es sind diese Mißverständnisse zuhause, die ihn so sehr verwirren, daß er zum ersten Mal in seinem Leben das Gefühl hat, sich falsch zu verhalten, oder besser, die anderen zu einem falschen Verhalten zu veranlassen.
Die Schwierigkeit zuhause gehe von seiner Frau aus, sagte er. Eine kleine, harmlose - so könne man vielleicht sagen -, schon länger zurückliegende Mitteilung von ihm habe ausgelöst, daß sie keine Minute mehr zur Ruhe komme. Sie rede ununterbrochen von dieser Sache. Wenn er in ein anderes Zimmer ausweiche, gehe sie hinter ihm her und rede weiter mit ihm. Wenn er im Bad sei, stehe sie vor der Türe und rede. Wenn er von etwas anderem sprechen wolle oder müsse, denn es gebe ja auch noch andere Dinge in der Welt, dann biege sie das Thema sofort um und komme auf diese gewisse Sache zu spre­chen.

Zunächst zu seiner kleinen Bemerkung. Er hatte zu seiner Frau gesagt: „Menschen können tatsächlich wie Obst riechen, ich meine, wie frisches, duftendes Obst.“
„Wie?"
„Nun, zum Beispiel wie ein aufgeschnittener Apfel. Zum Beispiel die kleine Tückmantel – hat jemand gesagt!"
„Wer?“
„Du meinst – wer?“
„Ja. Ich frage wer.“
„Ich weiß nicht mehr. Vielleicht die Frau Scheurenbrand von der Lohnbuchhaltung.“
Das glaube sie nicht. Er solle lieber gleich sagen, daß er Fräulein – also sie, die nach Apfel riecht, getroffen habe.
Nun ja. Ganz kurz.
Es ging um einen kleinen Vorfall. Er hatte die neue Kreditoren-Sachbearbeiterin, Silke Tückmantel, im Auto ein Stück mitgenommen. Nun ja, ein Wort gibt das andere, man kommt plötzlich auf den Gedanken, in einer Wirtschaft ein Glas zu trinken. Und dann ist es passiert.
Fräulein Tückmantel ist ein hübsches Mädchen. Man möchte Bodo beneiden. Man kann Bodo auch verstehen, sie hat so etwas Glitzerndes, Wahnsinniges in den Augen, die von einem sehr hellen, wässrigen Blau sind. Ich kann Bodo  freilich nicht sagen, daß ich Silke nicht verstehe. Bodo ist nach meiner Meinung eher häßlich, mit seinen buschigen Augenbrauen unter niedriger, kantiger Stirn, und mit seinem Gesichtsausdruck, der zwischen frecher Gleichgültigkeit, Dreistigkeit und strahlender Selbstgefälligkeit wechselt. Ich merke plötzlich, daß ich etwas gegen Bodo habe.

Auch scheine ich keinen Blick für Möglichkeiten zu haben. Da fängt so ein kleiner Kolibri, Silke Tückmantel, bei uns an, und ich komme nicht einmal auf den Gedanken, daß sie auf Abenteuer aus sein könnte. Wohl aber dieser Bodo. Was kann sie nur an ihm anziehen? Spürt sie, daß er ein wenig verrückt ist, daß er verrückt werden kann, daß er ganz ver­rückt sein kann, wenn es darum geht?
Nur so und nicht anders kann es sein. Ich fürchte, mir fehlt die Fähigkeit, verrückt zu werden. Nur gut, daß man nicht auf ewig so unvollkommen sein muß.
Von dieser Silke Tückmantel hat Bodo zuhause erzählen müssen. Er hatte sich also verplappert.
Bodos Frau wollte wissen, warum gerade dieses Mädchen... Was war mit ihr? Bodo war ratlos, so ratlos, daß er sich selbst fragte: Ja, wie komme ich nur darauf? Er kratzte sich hinter dem Ohr, schüttelte ratlos den Kopf, aber dann fiel es ihm ein: Die­ses Fräulein Tückmantel lebte allein, fühlte sich in der neuen Firma isoliert, suchte Kontakt. Das habe ihm leid getan. Man müsse diese kleinen Frauen mögen, die sich nach ein bißchen Lebensglück sehnten. Aufmerksam geworden sei er jedoch durch diesen Geruch von ihr, den Apfelgeruch, den Geruch von Reinheit, von Frische – man könne sich nur Gutes dabei denken. -

„Hör auf mit dem Unsinn! Das ist einfach ein billiges Parfum,“ schrie Frau Kranepol wütend.
Von diesem Augenblick an begann das pausenlose Reden von Bodos Frau. Es dauerte auch nur wenige Minuten, bis Bodo die Affäre selbst gestanden hatte, diese einzige halbe Stunde, und wer wolle wirklich von sich behaupten, er sei in so einer Situation nicht verführbar?
Unter dem Eindruck des pausenlosen Fragens und Redens seiner Frau gestand Bodo auch weitere Zusammentreffen mit Silke Tückmantel, aber nun sei endgültig Schluß. Wie könne sie nur glauben, da sei noch etwas? Dann würde er doch nicht so offen darüber reden. Außerdem sei es eben nur dieser bewußte Geruch gewesen, also nicht er selbst. Nein, der Geruch. Von sich aus käme er nie auf solche Gedanken.
"Wieso?" rief Bodos Frau. Sie habe ihn ja schon bei zwei Lügen ertappt. Erstens, über die Sache überhaupt, und dann habe sie erst herausfinden müssen, daß es nicht bei einem Mal ge­blieben sei. Wie solle sie ihm noch glauben? Er habe ihr Vertrauen zerstört.
,,Nein", rief Bodo, ,,nein. Du mußt mir glauben. Sonst hört dieses Gerede ja nie mehr auf. Paß auf, ich sage dir jetzt etwas, damit du siehst, daß ich dir nichts, aber auch nichts verheimliche."
,,Ja, und was ist das?"
,,Aber das sag ich dir nur, damit du mir endlich glaubst."
,,Nun erzähl schon."
Bodo gestand, daß er auch etwas mit Frau Jankow gehabt habe, der Frau, die ihr manchmal hier in der Wohnung die Haare fri­siere. Aha. Die auch. Dann solle Bodo auch gestehen, daß er unab­lässig vielleicht alle paar Tage Frauen gehabt habe. Bodo beteuerte, nein, so sei es nicht gewesen. Vielleicht würde es ihr Vertrauen in seine Wahrheitsliebe stärken, wenn er ihr noch sage - obwohl er ja gar nicht gezwungen sei, es zu sagen, daß er einige Male Frau Wendula Schmalz   in ihrer Wohnung aufgesucht habe...
Wendula  Schmalz half Bodos Frau im Frauenkreis der Arbeiterwohlfahrt. Bodos Frau war die Leiterin des Frauenkreises. Sie könne sich jetzt nirgendwo mehr blicken lassen, nirgendwo, sagte Bodos Frau. ,,Mach dir da keine Sorgen", erwiderte Bodo beruhigend, ,,Von den Frauen, die ich kenne, redet keine. Keine einzige."
Was das denn nun schon wieder heiße? Offenbar seien es  mehr als diese zwei. Unter dem nunmehr verstärkten Reden und Fragen seiner Frau gestand Bodo insgesamt sechsunddreißig Fälle, diese aber ver­teilt über mehrere Jahre.
,,Also, ich bin soweit, daß ich ausziehen will", sagte Bodo zu mir. ,,Sie hört keine Minute auf zu reden." Er sah mich einen Augenblick lang an und sagte dann: ,,Ob Sie mal mit ihr reden? Doch, so was tut sie. Wenn ich ihr sage, daß Sie hier in der Firma auf meiner Seite stehen, aber mich trotzdem immer ermahnt haben, nichts falsch zu machen?"
Das mit dem Ermahnen muß ich noch nachholen, fiel mir ein.

Während der folgenden Tage fallen mir immer wieder Ratschläge für Bodo ein. Es ist eindeutig, daß er sich ändern muß. Am besten wäre es, wenn er ein völlig anderer Mensch werden könnte. An einem Abend kommt Bodo wieder in mein Büro. Wenn ich ihm Ratschläge erteile, weise ich immer wieder darauf hin, daß ich seine Schwierigkeiten und die Fehler, die er macht, sehr gut verstehe. Vieles davon könnte auch mir passieren. über dieses Eingeständnis freut er sich.
Seine Frau verlange ständig neue Geständ­nisse. Und das mit der Begründung, daß sie seinen bisherige Geständnissen ja nicht trauen könne, daß er ja das Vertrauen gebrochen und sie belogen habe, daß er folgerichtig immer noch unter Verdacht stehe, bis – ja, bis er alles gestanden habe.
Bodo hat tatsächlich erreicht, daß ich als neutraler Vermittler hinzugezogen werde. Ich soll abends mit Bodo in ihr Heim kommen. 
Als wir Drei zusammen sitzen, merke ich, daß sie mich nur als Zuhörer braucht. Die milde Rolle des Vermittlers hat sie mir nicht zugestanden. Sie hört nicht zu. Für sie bin ich Bodos Komplice; nur mühsam und verächtlich verschont sie mich mit direktenVorwürfen. Es ist immer wieder dasselbe, was die beiden sagen. Sie hört nicht auf mit Vorwürfen und Fragen, sagt Bodo. Frau Kranepol sagt dann; er hat sie betrogen, sie kann nichts anderes mehr denken, sie kann sich schließlich doch nicht damit abfinden, oder?

Plötzlich bleibt ihr Blick an mir haften: Wieso hat er gerade mir alles erzählt? Habe ich alles die ganze Zeit gewußt? Glaube ich etwa, es sei schön für eine Frau, wenn alle anderen wissen, daß sie betrogen wird? Und wie es mit mir stehe? Habe ich Kinder, ist meine Frau zufrieden? Warum bringt mich Bodo mit? Ich muß ja ein großartiger Mensch sein, wenn ich anderen helfen kann. Das hätte ich nicht behauptet, sage ich trotzig. Bodo habe mich gebeten, und so weiter. Bodo blickt betreten vor sich hin. Er kann sie nicht zurückhalten, und er ist es wahrscheinlich gewöhnt, von ihr bloßgestellt zu werden.
Zum Schluß habe ich dann doch noch einen Ratschlag versucht. Diese Besessenheit, mit der sie rede, ja, Besessenheit, die sei das Gefährliche. Keiner kommt an einen Besessenen heran, und darum kämen sie beide nicht näher zueinander. Sie streift mich nur mit einem verächtlichen Blick.
Sie werde Erkundigungen über mich einziehen, sagt sie. Ich käme ihr merkwürdig vor, ja, merkwürdig. Am besten wäre es, wenn sie mit meiner Frau reden könne.
Jetzt sitze ich zuhause in meinem  Arbeitszimmer. Ich bin auf jemand gestoßen, der mir das Gefühl genommen hat, ich sei ein schätzenswerter, ausgleichender Mensch.



© Karl Otto Mühl - Erstveröffentlichung in den Musenblättern 2007
Redaktion: Frank Becker