Souterrain

von Karl Otto Mühl

Foto © Frank Becker
Souterrain


Heute war Marlene hier und hat sich verabschiedet. Sie zieht mit ihrem Mann weg. Es sei ein neuer Anfang für sie, sagt sie.
Mir fällt ein anderer Anfang ein.
 
Vor einigen Tagen bin ich nämlich an dem Haus vorbei gegangen, in dem ich vor über vierzig Jahren ein Appartement im Souterrain bewohnte. Es lag im Souterrain, aber es war nicht wirklich ein Kellergeschoß, denn aus den Fenstern an der Rückseite blickte man ins Tal hinab, das Haus lag am Hang.
Aber es war damals eine einsame Situation für mich. Ich kannte niemanden in der Nachbarschaft, denn ich hatte einige Jahre auswärts gewohnt, gelebt und gearbeitet. Eine Firma hatte mich für das Management eingestellt, eine mächtige Firma, in der ich mit kühlem Respekt empfangen wurde, mit eigenem Büro, gespitzten Bleistiften, Sekretärin, Sprechverbindung zum Sekretariat.
 
So fein hatte ich es noch nie gehabt. An dir muß doch etwas dran sein, muß ich gedacht haben. Der Direktor kam morgens zur Begrüßung herein, ein schlanker Akademiker im dunklen Anzug; meine neuen Mitarbeiter erschienen zum Rapport, es waren meistens Diplom-Ingenieure; der Werbeleiter zeigte mir seine Entwürfe, sie wurden mir in schönen Mappen zum Abzeichnen vorgelegt; der Disponent kam mit seinen Ausrechnungen und Zahlen. Ich bewunderte seine fein ziselierte Handschrift. Sie floß aus seiner Hand so wie mir meine krummen Buchstaben.
Diplom-Ingenieur Erdmann fuhr mit mir eine Woche bei der Kundschaft vorbei. Die Leute waren geehrt, daß der Verkaufsleiter, also ich, selbst mitkam.
 
Um es kurz zu machen: Ich war wie betäubt. So sehr, daß ich kaum einschätzen konnte, warum es mich forttrieb. Aber etwas in mir hatte begriffen, daß fast alle diese Leute in der Firma auf ihrem Gebiet mehr wußten und konnten, als ich in den nächsten Zeit würde lernen können.
Die kommende Niederlage stand schon fest.
Dienstwagen waren auf meiner Ebene nicht üblich, aber ich hatte einen gewollt, und so bekam ich doch einen alten Opel Rekord, um am Wochenende dorthin fahren zu können, wo ich nach diesem Abenteuer wieder einzog, zu meinem neuen  Appartement, das der Freund kurzfristig für mich besorgt hatte.
 
Ich hatte die Flucht ergriffen. Gab den Wagen bei der Fahrbereitschaft ab, ließ mich von einem Freund in die Heimatstadt fahren, hinterließ einen Kündigungsbrief, „gesundheitliche Gründe“ und so, und da stand ich nun allein am Fenster und blickte auf wieder auf meine Stadt. Eine kleine Stellung in der Nähe war mir schon in Aussicht gestellt worden.
Das war ein Sturz. Und nun - so einsam und aussichtslos konnte man von einem Tag auf den anderen werden. Hätte ich überhaupt weiter zu leben gewagt, wenn ich vorher gewußt hätte, wie es mir einmal ergehen würde?
 
Abends ging ich bei leichtem Regen in die menschenleere Stadt, stand vor Schaufenstern, betrachtete zum hundersten Male die Kassettenrekorder und Koffer-Radios, die gerade   populär waren, setzte mich in eine dämmerige Wirtschaft. Vielleicht wunderte ich mich, daß ich nicht noch unglücklicher war.
 
An einem diesigen Morgen schritt ich zum ersten Male durch das Fabriktor. Aus der Türe zum Pförtnerhaus blickte mich der Pförtner, ein junger Werkstudent, prüfend an. So erging es mir auch beim Gang durch die Büroräume.
 
Und dann kam alles anders. Ich trat meine neue Stelle an, wurde als Gescheiterter großmütig angenommen. Allerdings war mein Arbeitsplatz weniger großzügig als der vorherige. Ich saß in einem sieben Quadratmeter großen Glaskasten zusammen mit meinem Kollegen namens Ewald, dessen Mutter Haushälterin beim Seniorchef gewesen war. Ewald und ich erfüllten den kleinen Raum mit dichten Zigarettenqualm. Ewald erklärte mir, wie man das kleine Gehalt einteilen und verwenden könnte. Seine Hemden zum Beispiel kaufte er sich für fünf D-Mark im Ausverkauf. Seine Frau wirtschaftete sparsam, er war nach dreißigjähriger Ehe immer noch glücklich mit ihr.
 
Ich arbeitete in einem mittelständischen Familienbetrieb. Die Söhne der alteingesessenen Angestellten arbeiteten zum Teil auch in der Firma. Der Ton war rauh und offen, aber es gab auch Zeichen von Menschlichkeit. Ein leitender Mitarbeiter, der heimlich Schrott aus der Firma verkauft hatte, wurde nicht entlassen, sondern nur versetzt; ein höflicher und hilfsbereiter Bankangestellter aus dem fernen Spanien wurde herübergeholt und eingestellt – der Seniorchef hatte ihn drüben entdeckt -, jüdische Emigranten und gescheiterte Berufsoffiziere fanden einen Arbeitsplatz und blieben treue Mitarbeiter fürs Leben.
Mich, den Unverheirateten, behandelten die älteren Frauen, besonders die in den Hilfsabteilungen der Firma, also Musterabteilung, Posttisch, Registratur, mütterlich fürsorglich.
 
Ich war abends pünktlich zu Hause; sicherlich recht müde von der konzentrierten Formulararbeit an diesem bescheidenen Posten, aber ich begann, meine Erlebnisse aufzuschreiben, ich machte täglich Sport und traf regelmäßig Freunde, die ich wieder aufgesucht hatte. Wenn ich mich abends in mein einsames Bett legte, wurde ich sanft von einem luftigen Glücksgefühl gebettet.
 
Ich hoffe, daß es Marlene und Dirk auch so geht, daß sie einen neuen Anfang finden. Aber es wird ein ganz anderer sein als meiner damals. Sie ziehen in eine Wohnanlage für betreutes Wohnen, weil Dirk unsicher geworden ist. Er stürzt oft, und manchmal ist er desorientiert. Obwohl er Beamter im gehobenen Dienst war, hat ihn das nicht davon abgehalten, regelmäßig zu viel zu trinken. Aber seine Frau kümmert sich um ihn und sie wird für alles sorgen.
 
Solche Anfänge gibt es auch, und vielleicht enden die meisten Menschen mit so einem Anfang. Schön wäre es, wann es dann irgendwann auch ein solches Glücksgefühl für sie gäbe.


© Karl Otto Mühl - Erstveröffentlichung in den Musenblättern 2009
Redaktion: Frank Becker