Wunder muß ich euch melden

Wagners "Siegfried" in einer berauschenden Hamburger Inszenierung

von Peter Bilsing
„Siegfried“
in Hamburg
 



Inszenierung: Claus Guth  -  Musikalische Leitung: Simone Young  -  Bühnenbild und Kostüme: Christian Schmidt  -  Licht: Michael Bauer
Besetzung: Christian Franz  (Siegfried) - Peter Galliard  (Mime) -  Falk Struckmann  (Wanderer) -  Wolfgang Koch  (Nibelung) -  Diogenes Randes  (Fafner): -  Deborah Humble  (Erda) -   Catherine Foster  (Brünnhilde) -  Ha Young Lee (Waldvogel)

Es spielen die Philharmoniker Hamburg.
 
Ich habe viele, sehr viele – geradezu unzählige – „Siegfriede“ durchlitten und durchschlafen. Siehe mein jüngster Siegfried-Bericht aus Essen, bei dem die meisten Kritiker, trotz guten Kaffees und Stefan Soltesz, dennoch wegnickten. Ich gebe zu, das ist für einen Ring-Freak, dessen erklärtes Lieblingswerk eben genau diese Oper ist, nicht gerade löblich. Und ich verspreche jedes Mal wieder Besserung, aber dann... Es gibt in den letzten 40 Jahren, auf die ich Ring-rezeptionsmäßig zurückblicke, eigentlich nur drei Abende die brillant waren und alle Facetten dieser ursprünglich doch eigentlich richtig spannenden und wunderschönen Oper – vielleicht sogar Wagners schönste – nachhaltig aufzeigten: Patrice Chereau in Bayreuth 1976, John Dew in Krefeld/Mönchengladbach 1983 und Michael Schulz in Weimar 2006. Erstere und letztere sind in hervorragender Qualität und optimaler Bildregie zum Nachverfolgen auf DVD erhältlich. Wenn Sie da nicht meiner Meinung sind lesen Sie bitte nicht weiter!
 
„Wunder muß ich euch melden“
 
„Wunder muß ich Euch melden“ über einen vierten „Siegfried“ den ich in meine Sammlung der „Best of“ einreihen werde. Es handelt sich die jüngste Produktion der Hamburgischen Staatsoper von Klaus Guth und seinem Team. Kurzfazit: Grandiose Regie, superbe Sänger und eine fast überirdisch gute musikalische Leistung und Leitung des Orchesters. Der Opernfreund gibt 5 Sterne und einen Extra-Stern für Simone Young resp. Christian Franz. Was für ein Ausnahmeabend! Erzählen wir´s chronologisch.
 
Auf karger, aber sehr überzeugender Bühne (Christian Schmidt), die sich im Verlauf des Abends noch vielfältig verändern wird, sehen wir im ersten Akt zwei unstete Typen in ihren simplen Rohrbetten in einer Garage dahindämmen, die den Dimensionen nach auch ein Schuppen der lokalen Dorf-Feuerwehr sein könnte. Weniger wonnige Öde, als selige Leere. Notquartier zweier Penner oder sozial Ausgestoßener, wie auch immer. Mime ist ein unwirscher Alter, ein scheinbar tablettensüchtiger Tattergreis, der nicht schlafen kann und sich in seinem Bett herumwälzt – geplagt vom hämmernden Schmiedemotiv aus dem Orchestergraben; sein permanenter Alptraum. Doch Vorsicht, denn der Mann ist gemeingefährlich, blitzschnell hat er ein Messer, eine Würgeschlinge (bei Wotans-Frage-und-Antwort-Quiz z.B.) oder später (vor der Drachenhöhle) den Speer zur Hand – allzeit bereit auch leichtfüßig und unangekündigt zu morden. Eine phantastische Leistung von Peter Galliard, der auch gesanglich alle gemeinen Tücken der Partitur bravourös bewältig.
 
Per aspera ad astra
 
Siegfried hingegen ist ein ewig Fragender, ein unsicher Suchender, ein harmoniebedürftiger Knabe auf dem ewigen Erkundungspfad nach sicheren Gefilden, die ihm nicht nur Obdach und Ordnung, sondern auch ein stabiles Heim mit Liebe und Anerkennung bieten. Seine große Liebessehnsucht bleibt stets die eines Kindes nach der Vater- oder Mutterfigur, nach dem Vorbild, nach einem Leben, welches sich lohnt. Er sucht vertrauenswürdige Menschen, die ihm die Welt erklären, die Fragen des Daseins und seiner Herkunft vernünftig beantworten. So ist es kein Wunder, wenn er am Ende des ersten Aktes in einem Graben alles Alte und Nichtssagende hinter sich läßt, es in einer Art veritablem Fege-Feuer verbrennt, welches ihm zugleich als Schmiedeglut dient, um das Zauberschwert Nothung, das er an einer rotierenden Waschmaschinentrommel vorher zerschmirgelt hatte, neu zu stählen. So schneidet Siegfrieds Schwert sich im Finale durch das riesige Garagentor den Weg frei in neue Welten.
 
Paradise lost
 
2. Akt. Die neue Welt endet erstmal in einem großen Terrarium, in dem prächtig die wildesten Pflanzen des Urwalds blühen, als seien sie einem Rousseauschen Öl-Gemälde entliehen; dennoch geht von der riesigen geborstenen Scheibe Unheimliches aus. Hier haust etwas, mit dem man lieber nichts zu tun haben möchte. Der geborstene Glasrahmen birgt eine Bedrohung. Dahinter liegt eine scheinbar andere, verlorene Welt - eine Art Jurassic Park? Doch den Dinosaurier sehen wir noch nicht. Wir werden ihn nie sehen, denn die Kampfszene mit dem Drachen wird phänomenal allein durch Leucht-, Nebel- und Lichteffekte (Michael Bauer) gelöst. Der wieder vermenschlichte Drache (anrührend Diogenes Randes) stirbt im gekachelten Vorraum ebenso sinnlos, wie der entfesselte Mime im psychopathischen Mörderwahn. Nicht zu vergessen Alberich, den Wolfgang Koch als wartenden Penner überzeugend realisiert. Und bevor das Waldvöglein, fast eine Art Alter ego Siegfrieds (großartig gesungen von Ha Young Lee) Siegfried zu „neuen Taten“ geleitet, kehrt er aus dem jetzt lichter gewordenen Urwald noch einmal zurück ins Museum, setzt dem Leichnam Mimes eine goldenen Krone (aus dem Hort) auf und tätschelt ihm kopfschüttelnd und mitfühlend – als sozusagen letzte Ehre und des „Lebewohles letzten Gruß“ den Kopf. Welch eine wunderbar anrührendes Geste! Im Terrarium ist jetzt eine massive Mauer erkennbar. Dahinter liegt wohl die Welt oder besser die Antwort auf alle Fragen, die unser bescheidener, aber wißbegieriger Held noch hat. Sie wird ihn nicht nur das Fürchten lehren… Gespannter, nervöser und aufgeregter ging man selten in eine Pause.
 
Simone Young und die Reifung Wagners
 
Der dritte Akt wird von einem furiosen Orchestervorspiel eingeleitet, und es gelingt Simone Young auf geniale Art und Weise mit ihren Musikern die Reifung Wagners auch hörbar werden zu lassen, eben genau jene 12 Jahre binnen deren u.a. der Tristan entstand und die sich markant in der musikalischen Struktur des dritten Aktes nachhaltig verankerten. Guth läßt nun den ersten Teil überzeugend in einer großen Bibliothek spielen. Hier waltet Erda, die Bibliothekarin und Verwalterin des ewige Wissens. Doch die Regale sind leerer geworden, Lücken allenthalben. Hier ist keine Kunde mehr zu gewinnen, nicht über die Erde, nicht über die Menschen, noch die Götter und deren Zukunft. „Wild und kraus, kreist die Welt“ – In Rechtlosigkeit, Meineiden und Mord erstickte das Chaos die Welt, welches Wotan zurück ließ. All das dämmert dem Gottvater, Playboy und gemeinen Dieb Wotan - während sein Leben noch einmal vor ihm abläuft, versenkt er die Erdenmutter zu „ewigem Schlaf“ und sieht das eigene Ende in Gestalt Siegfrieds nahen. Deborah Humble ist ein Wunsch-Erda – überzeugender kann man kaum singen, und auch der Wotan von Falk Struckmann ist schallplattenreif-perfekt. Würde und Humanität strahlt er aus und überspielt so prachtvoll die Doppelbödigkeit und den Zynismus eines doch eigentlich ganz miesen Wagner-Charakters. Und wenn Siegfried den Speer durchschlägt, brechen die Regale laut polternd auseinander, die Bücher mit all ihrem Wissen dieser Welt bleiben nur noch als ein erbärmlicher Müllhaufen der Geschichte zurück. Siegfried stellt sich endlich seinem ungewissen, im Nebel wabernden Schicksal.
 
Weltenklang und Kammermusik: in allen Facetten überwältigend
 
Simone Young zeigt sich als große Wagnerkennerin, die für diese Produktion vielfach quellenhistorisch recherchiert hat. „Wir haben Fehler entdeckt…Es handelt sich vor allem um missverständliche Tempoangaben, die durch italienische Bezeichnungen entstanden sind. Darüber hinaus geht es um dynamische Retuschen, die bei Siegfried unumgänglich sind. Wir haben Crescendi und Decrescendi überprüft, wo sie beginnen, wo sie enden und haben unzählige kleine Korrekturen auch in den Artikulationen gemacht…“.  Die Frage, ob das hörbar wird, beantworte ich mit einem klaren „Ja“, denn ich habe selten einen so differenzierten Wagnerklang mit aller Grandezza gehört. Er ist nicht nur spannungsvoll ausmusiziert, sondern präsentiert auch alle Facetten dieser hinreißenden Siegfried-Musik vom Kammermuskalischen bis hin zum Weltenklang goldenen Blechs und tiefgrübelnder Tuba-Wallungen, geradezu überwältigend. Und es wurde mir von einigen Musikern, die ich später in der Kneipe traf, bestätigt, daß das Orchester selten „so genial zusammengekommen“ ist.
 
Wenn der Vorhang sich ein weiteres Mal öffnet, sehen wir ein überzeugendes Schlußbild; links die zerborstenen Fenster eines nur noch in den Mauern existierenden Kleinbürgerhauses, rechts hinter lodernder Lohe liegt Brünhilde vor den Trümmern ausgebombter Zivilisation. Wenn Siegfried Brünhilde weckt, ist das für ihn eine emotionale Achterbahnfahrt Mann-Mutter-Maid – da kann man wahrlich das Fürchten lernen. Lauter Rätsel:„was Du singend mir sagst, staunend versteh ich´s nicht, nicht kann ich das Ferne sinnend erfassen.“ Da Brünhilde dem armen verlorenen Helden nun anscheinend nicht einmal „den Brand, die schäumende Glut“ löschen will und seine dräuenden Fragen eher rätselhaft als mit den gesuchten Erklärungen beantwortet, packt der arme Kerl als weiterhin Suchender sein Bündel mit den Resten des Horts und zieht scheinbar frustriert kopfschüttelnd weiter seines Wegs. Doch magisch zieht es ihn zurück zu dem Ort, den er nicht versteht, zu der seltsamen Frau in dieser zerborstenen Welt, die letztlich doch nur noch eines dominiert: „Leuchtende Liebe, lachender Tod!“ Die Prognose für die mit Spannung erwartete Fortsetzung seiner Leidensgeschichte in der „Götterdämmerung“.
 
Überzeugend, brillant, wertvoll
 
Welch großartige und intelligente Inszenierung! Das alles ist auch darstellerisch so überwältigend und unter die Haut gehend umgesetzt, daß man am liebsten auf die Bühne gehen würde um diesen armen Kerl Siegfried mit seiner schlimmen Vergangenheit spontan in den Arm zu nehmen. Zu Recht wurde zum Schlußapplaus das ganze Orchester auf die Bühne gebeten. Selten sah man eine dermaßen überzeugende Wagner-Inszenierung, die brillant bewies, wie aktuell uns doch unser Wagner heute noch berühren kann, wenn man den „Muff von tausend Jahren“ rigoros beseitigt. Bravo! Bravi! Dacapo! Nach diesem Traumabend vergingen die 500 km Heimfahrt quasi im Flug. Der „Opernfreund“ empfiehlt: Jede noch so weite Anreise ist diese Aufführung wert. Auch Bayreuthgeschädigte werden mehr als auf ihre Kosten kommen. Bitte hinfahren! Spannenderes Musiktheater gibt es nicht. Claus Guth und sein Ensemble bewiesen nachhaltig, wie mit welcher Überzeugungskraft Wagners Werk auch noch im 21.Jahrhundert vermittelt werden kann.
 

Peter Bilsing / 2.PR am 22.Oktober 2009 – Redaktion: Frank Becker
Weitere Informationen unter: www.hamburgische-staatsoper.de