Morgen im Herbst

von Karl Otto Mühl

Foto © Frank Becker
Morgen
 im Herbst
 
 
Der Herbst ist mein Nachbar geworden. Nachts weckt er mich auf mit tosenden Windböen, mit Blitz und Donner, morgens verstellt er das Außenthermometer auf unvorstellbare sechs Grad, vor der Haustüre ragt mir sein braunes, nasses Gesicht entgegen. Er reißt mir den Wunsch nach Promenadenfröhlichkeit und Leichtfertigkeit aus der Hand, er erinnert unbarmherzig daran, wie rasch die letzten zehn und mehr Jahre vergangen sind, und, schreit er - das sollte mit den letzten paar Jahren nicht auch so gehen?
 
Ich kann es mir nicht vorstellen. Ich denke darüber nach, während ich eine matronenhafte, ältere Frau neben mir an der Theke betrachte, füllig, gesunde Gesichtsfarbe, fröhlich blitzende Brillengläser. Sie ist bestimmt fünfzehn Jahre jünger als ich, aber ich sehe, das Leben hat sie müde gemacht. Im Turnverein ist sie im Unterschied zu mir bestimmt nicht. Sie verläßt den Laden mit wiegendem Gang.
 
Sonst erlebe ich nichts Besonderes an diesem Morgen in der Bäckerei. Außer den lästigen Gedanken über die Vergänglichkeit und die Welt überhaupt.
Ja, die Welt. Schon gleich nach der Geburt hatte ich die Überzeugung, daß es sie ohne mich nicht gäbe, und ganz bin ich diese Überzeugung nie los geworden. Von da wäre es eigentlich nur ein kleiner Schritt bis zu der Meinung, daß ich sie eigentlich nicht brauche, diese Welt. Aber wenn ich dann an einem Wochenende in mein Stammlokal gehe und mein Lieblingsgericht bestelle, dann tue ich es doch vielleicht auch, um unter Menschen zu sein, und nicht zuletzt, um zu erleben, wie wichtig ich für den Kellner bin, der schon vorher weiß, was ich will. Ein bißchen brauche ich die Welt doch noch.
 
Aber die Toten des vergangenen Halbjahres stehen, eingehakt Arm in Arm, mit dem Herbst vor mir auf. Der Freund, der im Koma lag, ist gestorben, aber die Beerdigung an einem sonnigen, windigen Frühlingsmorgen war – er verzeiht mir – von leiser Fröhlichkeit bewegt; C. hat ALS bekommen und kämpft mit einem Personal Coach dagegen an; H. hat seit Kurzem eine heftig zitternde Hand; von zwanzig Klassenkameraden sind mit mir noch vier übrig geblieben; G. fliegt trotz Leukämie immer noch nach Mallorca und nimmt seine Frau, die einen Schlaganfall hatte, im Rollstuhl mit.
Das alles hat die Zeit geschafft, die ohne mich ja gar nicht vergangen wäre. Hätte ich sie anhalten sollen? Eigentlich versuche ich es ja schon manchmal, muß ich zugeben.
 
Ich muß mich um die kümmern, die übrig geblieben sind. Ich werde Wolfgang und seine Frau im Pflegeheim besuchen, jenem, das an Kaiser Wilhelm erinnert, wenn auch nur von außen. Wolfgang wird es nicht übel nehmen, daß ich noch im Trainingsanzug bin, er wird es nicht einmal sehen, da er den Kopf kaum bewegen kann.
Mein Auto steht brav in einer langen Reihe in der nassen Vorstadtstraße. Am Bordstein ist schon Laub angehäuft. Noch kann ich Kranke besuchen und über Schicksale vorsichtig hinweg balancieren. Ich weiß, das wird nicht immer so bleiben.
 
Ob sie noch im gleich Zimmer liegen, zweihundertzehn, frage ich an der Pforte. Es sind gleich zwei Pflegerinnen hinter der Glasscheibe, sie blicken einander fragend an. Dann schüttelt die eine den Kopf: nein!
 
Ich beginne etwas zu ahnen: "Sind sie gestorben?“
Kopfnicken.
„Beide?“
Wieder nickt eine. Dieser Herbst räumt sie weg, die alten Freunde. Wohin immer ich jetzt gehen werde, es wird nur vorläufig sein.
 
 
 
© Karl Otto Mühl – Erstveröffentlichung in den Musenblättern 2009-10-13
Redaktion: Frank Becker