Das Bild vom Menschen

von Hanns Dieter Hüsch

© André Polozcek / Archiv Musenblätter
Das Bild vom Menschen

Ja, potz tausend, wer hat es nicht, wer hat es nicht in sich: Das Bild vom Menschen! Wer trägt es nicht stän­dig mit sich und mit anderen herum? Wer stellt es sich nicht täglich vor sich hin, auf den Schreibtisch, auf den Nachttisch, auf den Küchentisch und sagt laut: Das ist es! Das Bild vom Menschen! Das müssen wir haben! Und wer kennt es nicht? Jeder von uns kennt es, das Bild vom Menschen:
Den Knaben (Junge, Bub, der "Kleine", das Kind im Spielalter, das Spielkind). Das Mädchen (Mädel, die "Kleine", das Kind im schulpflichtigen Alter, das Schul­kind). Die Mutter (Mutti, Mama, Mamma, Mammi, Frau, Ehefrau, Gattin, Gemahlin, Hausfrau, das Weib, biswei­len scherzhaft: Die Alte). Der Vater (Vati, Papa, Pappa, Mann, Ehemann, Gatte, Gemahl, bisweilen scherzhaft: Der Alte). Die Jungfrau, Jungfer, etwas jünger der Back­fisch, das Dirndl. Der Jüngling und der Bursche. Das Paar, das Liebespaar, die Verlobten, Verliebten, Heiratslustigen. Sodann der Großvater, der Bucklige, der Ausgewachsene, der Gelähmte, der Invalide, der Blinde, der Taube, der Greis. Unter anderen dann der Fettleibige mit Bauch oder Wanst genannt. Andererseits das Kind mit dem Wasserkopf. Der Betrunkene, der Mann, der einen Rausch hat, der Mensch, der sich der Trunksucht ergeben hat. Es folgen die Schwerhörigen. Die Liliputaner. Ganz zu schweigen von den Nasenfor­men, den Lippen, der Haartracht, den X-Beinen, den Plattfüßen und den Händen. Denken wir an die vielen Mutterflecken, Leberflecken oder Laubflecken. An die Sommersprossen. -
Wer kennt es nicht: Das Bild vom Menschen? Alle wis­sen davon zu berichten, stundenlang, tagelang, nächte­lang, auf dem Papier, auf dem Marktplatz, im Hörsaal und im Parlament. Zum Beispiel von der großen Aufga­be, die es mit dem Bild des Menschen auf sich habe. Alle laufen wir herum, tagein, tagaus, immer das Bild vom Menschen vor uns, um uns, auf uns, über uns, unter uns, zwischen uns, hinter uns. Alles wetteifert um das Bild, alles klagt über das Bild, beschimpft und be­kriegt sich wegen des Bildes. Es ist ja überall ausge­stellt, das Bild. Jeder kann es besichtigen. Alle können mit Fingern drauf zeigen. Ja, ja so sieht es aus, so sieht er aus, so sieht sie aus. So siehst du aus!
Aber ganz so einfach ist es ja wieder nicht. Denn wenn man denkt, man hat es, das Bild, schwupp, futsch ist es. Komisch, nicht wahr, es war doch eben noch da. Wir haben's doch alle deutlich gesehn. Oder wenigstens zwischen den Zeilen. Zu dumm. Wie bekommen wir jetzt ein neues Bild? Vielleicht auf dem ersten, vielleicht auf dem zweiten, vielleicht auf dem dritten BILDungsweg. Vielleicht hat der BILDungspolitiker noch zufällig ein Bild - in der Brieftasche. Ein Königreich für ein Bild. Wir müssen doch ein Bild vom Menschen haben. Die Zei­tung haben wir ja schon. Aber kein Bild mehr vom Men­schen (das Haar, die Schläfe, der Hinterkopf, das Ohr, das Ohrläppchen, die Kinnlade, die Kehle).
Ach, mit dem Bild ist das immer so eine dumme Sache. Man hat es, man hat es nicht. Man weiß es und man weiß es nicht. Und wenn man's mal hat, wird alles wie­der gleich unscharf. Dann kommt auch noch die Büro­kratie und alles wird phantasielos. Und das Bild vom Menschen liegt auf der Straße. Am besten, man läßt es dort liegen, damit es nicht weiter geschieht: Daß man vor lauter Bildern den Menschen nicht mehr sieht.
 
1970


© Chris Rasche-Hüsch
Veröffentlichung aus dem Band "Den möcht´ ich seh´n..." in den Musenblättern mit freundlicher Genehmigung
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