Lesesommer 2009 (5)

Spuren der Jugend

von Frank Becker

Foto © Frank Becker
Im Lesesommer 2009
heute: Spuren der Jugend


Es gibt, wie schon in Teil 4 unseres Lesesommers deutlich gemacht, etwas im Bereich der Literatur, das viele Leser oft mehr interessiert als Fiktion: das Eintauchen in Biographien, Beschreibungen wirklicher Schicksale. Kaum ein berühmter Mensch, der nicht die Erinnerungen an sein Leben aufgezeichnet hätte oder hätte aufzeichnen lassen. Der Bogen spannt sich von Henry Kissinger bis Dieter Bohlen. Gelesen werden sie alle. Ebenfalls hoch im Kurs stehen lebensnahe Korrespondenzen wie die von Gottfried Keller, Eduard Mörike, Theodor Storm, Leo Slezak, Theodor Fontane, Matthias Claudius, der Pfalzgräfin Liselotte oder Manfred Krug, dessen köstlicher Postkartenwechsel mit Jurek Becker in einem Buch dokumentiert ist. Doch es müssen nicht immer Berühmtheiten sein - nicht weniger aufregend sind Lebensbeschreibungen und Erinnerungen ganz "normaler" Menschen, die ja mehr das Volk ausmachen, aus dem wir stammen und in dem wir leben, als das Stars und Könige tun. Solche Autobiographien spiegeln das wirkliche Leben, eines das die meisten Leser nach- oder gar mitempfinden können.

Glücklicherweise gibt es Verlage, die sich um diese Facette der Literatur kümmern und mitunter investieren Menschen ihr Erspartes, um unters Volk zu bringen, was sie erlebt haben. Die Bäuerin Anna Wimschneider ist eine, die damit großen Erfolg hatte. Es gedeihen aber auch Pflänzchen, die wohl nie zu einer solch schimmernden Blüte kommen werden, dennoch etwas zu erzählen haben.

Heinrich Peuckmann hat unter dem Titel
"Der Vorwärtsfahrer" vor dem Hintergrund des Ruhrgebiets
in kleinen autobiographischen Erzählungen Erlebnisse seiner Kindheit, Jugend und der Zeit des Erwachsenseins festgehalten. Erst in den 60er und 70er Jahren ist die Region in den Blick der Literatur gerückt, seitdem aber hat sich die Welt zwischen Bocholt und Hamm, Kamen und Bochum ihren Platz erobert. Hier fand und findet das Leben statt. Heinrich Peuckmann war und ist mittendrin. Die dreizehn eher schlecht als recht als Typoskript mit platzschindenen Zeilenabständen gedruckten Geschichten erzählen humor- aber auch gedankenvoll von kleinen, alltäglichen Begebenheiten. Vom Lügenbaron Fritz Bussmann, von Schneeball-Unfug mit gewissen Folgen, dem Besuch des Knaben beim Friseur (genauso war das!), Schulerlebnissen mit Alt-Nazis als Lehrer (o ja!), dem Leben der "Fahrschüler" im dünn besiedelten Bereich, vom platt gesessenen Schokoladen-Osterei und natürlich vom "Vorwärtsfahrer". Später die Begegnung mit Krankheit und Tod. Aus dem Leben eben, denn der Tod gehört dazu. Schlicht und leicht erzählt, sind sie schnell konsumiert. An Tiefe fehlt es, soll ja wohl auch nicht sein. Doch leider schleichen sich auch flache Wendungen wie "Es ist eine Geschichte, die mich tief betroffen gemacht hat, damals" immer wieder ein. Das schmälert das Vergnügen. Und Vorsicht, spätestens beim zweiten Lesen lösen sich die schlecht gelumbeckten Seiten.
Heinrich Peuckmann - "Der Vorwärtsfahrer", 2009 Brockmeyer Verlag, 122 Seiten, Broschur, 12,90 €
Weitere Informationen unter: www.brockmeyer-verlag.de

In die 70er Jahre, als es zwischen Förderanlagen und Zechensiedlungen noch Tante Emma-Läden,
 
Trinkhallen, Middle of the Road und Cat Stevens, aber schon Opel Manta, Ford Capri und Afro-Look gab, fällt die Jugend von Margit Kruse. "Im Schatten des Turmes" hat sie ihre Erinnerungen betitelt, gemeint ist ein Wahrzeichen Gelsenkirchens, das turmartige Gebäude, das die Siedlung bewachte, in der sie groß wurde. Exemplarisch für viele Adoleszenzen in einem Ruhrgebiet zwischen Fördertürmen, das es so schon lange nicht mehr gibt, erzählt Margit Kruse deutlich autobiographisch vom Erwachsenwerden, Pubertät mit Übergewicht, erster glühender Liebe, ersten erotischen Erfahrungen, kuriosen Kuren in der fränkischen Provinz und Urlaub in Holland, der berühmten "Schale" (Currywurst und Pommes), von Betriebsfeiern mit viel Alkohol, vom Führerschein und von schmierigen älteren und unreifen jüngeren Galanen. Margit Kruse schreibt so unmittelbar und ungekünstelt, daß man "dabei" ist. Sie schafft es, die Atmosphäre ihrer Zeit mit dem markanten  gesellschaftlichen Umfeld und seinen Erscheinungsformen, ihre Jugend, ihre Lehre und allerlei Liebeleien, dazu Eltern, Nachbarn, Freunde und Kollegen so treffend einzufangen wie mit einem Fotoapparat. Mit ihr erinnert sich der Rezensent an Schlager und Filmtitel, Rasierwasserdüfte und modische Narreteien, an Markennamen von Getränken und ans Zonengrenzrandgebiet. Daß ein damals beliebter Schnaps allerdings "Dornkaat" hieß, hätte zumindest der Lektor wissen müssen.Lohnende Lektüre für 70er-Jahre-Nostalgiker.
Margit Kruse - "Im Schatten des Turmes - Eine Jugend im Ruhrgebiet", © 2009 Sutton Verlag, Reihe Heimatarchiv, 190 Seiten, Broschur, 12,95 €
Weitere Informationen unter: www.suttonverlag.de

Edmund Hoff erlebte in der Nachkriegszeit
im saarländischen Merzig und in Rimlingen-Bachem seine
 
katholische Kindheit und Jugend. "Als die Stadt ihre schwarzen Augen verlor" heißt die Fortsetzung seiner Erinnerungen ans Kriegsende. Nachdem die Amerikaner den Westwall überwunden und die Deutschen vom Nazi-Alptraum befreit hatten, erlebt der zum Heranwachsenden reifende Knabe die Zeit der Hamsterfahrten aufs Land in überfüllten Eisenbahnzügen, des deutschen Wiederaufbaus, des aufkommenden neuen bürgerlichen Wohlstandes und des Verschwindens der Angst. "Die schwarzen Augen der Stadt", die leeren Fensterhöhlen der zerbombten Häuser, wurden nach und nach wieder durch Scheiben ersetzt und von Licht erhellt. Man packte an, beseitigte Kriegsschäden und schuf eine neue, bessere Welt. Daran, daß Deutschland bald wieder eine Armee haben würde, dachte niemand, wollte niemand denken. Dieser fürchterliche Krieg sollte der Schluß des Wahnsinns gewesen sein.
Ein kurzes, einführendes Kapitel ("Als der Krieg noch fern schien") bildet das Bindeglied zu den Kapiteln des neuen Alltags, in den der 1945 zehn Jahre alte Edmund Hoff hineinwächst. Er erzählt vom Kampf ums tägliche Brot, von Kirchgang und Schulalltag, von Spielen und Lausbubenzeit. Der angemessene Ernst des Zeitbildes der sich mit der unbeschwerten Heiterkeit der kindlichen Erinnerungen mischt, macht das Buch nicht nur für Zeitzeugen, sondern auch für die heutige, übersättigte Jugend lesens- und empfehlenswert.
Edmund Hoff - "Als die Stadt ihre schwarzen Augen verlor" - Ein Junge erlebt die Nachkriegsjahre, © 2009 Gollenstein Verlag, 187 Seiten, gebunden, Literaturverzeichnis, Übertragungen aus dem Moselfränkischen, Übersetzung der Texte der lateinischen Messe, 16,90 €
Weitere Informationen unter: www.gollenstein.de