Tag für Tag

Sempé in deutschen Sammlungen - Eine Ausstellung in der Bayerischen Staatsbibliothek

von Frank Becker

© Diogenes
Von Managern und Musikern,
Radfahrern, Lausbuben
und Porree


Das erste, was man beim Betrachten eines solch wunderbaren Bildbandes empfindet, ist Glück, gepaart mit der Bewunderung für einen so genialen Zeichner wie Jean-Jacques Sempé. Doch schon das zweite Gefühl ist weit weniger positiv, ist es doch der nagende Neid gegenüber denjenigen, die es geschafft haben sich "einen echten Sempé" für ihre Bibliothek, das Arbeits- oder Wohnzimmer zuzulegen. Denn die Cartoons, Zeichnungen und Gemälde Sempés, die in dem neuen Diogenes-Band "Tag für Tag" zu sehen sind, wurden aus deutschen Privatsammlungen für eine Ausstellung in der Bayerischen Staatsbibliothek München zusammengestellt.  Tag für Tag (mit Ausnahme der vier Wochen, für welche die Bilder an die Ausstellung verliehen waren) können diese glücklichen Sammler ein Bild des Philanthropen, des liebenswerten Philosophen mit dem Zeichenstift Sempé zu Hause betrachten. Wenn das nicht beneidenswert ist.

Da die Kuratorin Joëlle Chariau jedoch  klugerweise mit Hilfe des Zürcher Diogenes Verlages einen aufwendigen Katalog erarbeitet hat, kann jeder Sempé-Freund auch nach Ende der Ausstellung die Exponate bewundern, mehr noch, er kann (und wird) das Buch wieder und wieder zur Hand nehmen und - so empfiehlt es Patrick Süskind in seinem einleitenden Essay - "darin lesen, auch wenn es keinen Text hat, und es langsam dechiffrieren". Man kann der Empfehlung Süskinds, sich dabei am besten in einer Ecke auf den Boden zu setzen, nur zustimmen. Und man wird, wenn man Süskinds Einleitung aufmerksam gelesen hat, mit noch feinerem Gespür für den zeichnerischen Witz und die Menschenliebe Sempés erfühlen. Süskind,
dessen literarische Arbeit oft genug von Sempé illustratorisch begleitet wurde, mit dem er auch gemeinsame Projekte umgesetzt hat, und der ein profunder Kenner von Sempés Wer ist, ist wohl der berufenste Laudator
 
© Sempé 1985 - Feder, Aquarell


Nun haben wir schon von Glück und Bewunderung gesprochen, von glückhaftem Besitz und läßlichem Neid; es kommt noch etwas hinzu: Eifer. Mir jedenfalls ging es nach dem Durchleben der zuvor genannten Emotionen so: es packte mich der Eifer, aus dem Gezeigten, das ich ja gar nicht mehr haben kann, weil es bereits in anderem Besitz ist, herauszufiltern, welches der Bilder ich denn erstanden hätte, um es Tag für Tag betrachten zu können. Dieser Vorgang weitete sich zu einem intensiven und schweren Prozeß des Sonderns. Es gibt von Sempé nichts Schlechtes, soviel schon mal am Anfang. Bei vielem Hin- und Her-Blättern, Einlegen von Lesezeichen, Umtauschen derselben und dem Ziel immer näher kommen, lernt man den wundervollen Zeichner immer besser kennen, vertieft sich die Zuneigung zu seinen Bildern.
Die Züge seiner Protagonisten, Ihre kleinen Träume und Leidenschaften, ihre Zufriedenheiten und Unzulänglichkeiten benötigen in der Tat keinen Text, um gelesen zu werden - wenn sie mitunter auch Sempé-typische kleine Begleittexte haben wie zu der Küchenkritik auf Seite 33 oder zu "Kleine Glücksmomente" auf Seite 39. Ich habe schon früher beim Betrachten von Sempé-Cartoons und -Zeichnungen lange überlegt, was da mit mir passiert und bin dann ganz selbstverständlich zu dem nächstliegenden und nur logischen Ergebnis gekommen, das sich auch jetzt wieder bestätigt: Sempés Bilder werden beim Betrachten zu Freunden.

91 Freunde also hat man mit "Tag für Tag" im Haus. Viele sind neu, einige sind einem schon hie und

© Sempé - o.T. - Feder, Farbstifte, Aquarell
da begegnet , ein fröhliches Wiedersehen. Ob wir dem Fahrradhändler in seiner Werkstatt zusehen, Geschäftsleute zum Essen begleiten, mit einem Buben rennen, um noch schnell aus dem Park zu flitzen, bevor der angeschlossen wird, ob wir uns mitten ins Gewühl auf einem belebten Platz stürzen - Sempés Wimmelbilder sind ebenso grandios wie seine stillen Einzelportraits -, an einer Theke stehen oder mit Musikern das Vor und das Nach eines Auftritts fühlen, bei Sempé muß man sich einfach wohl fühlen. Wenn ein kleines Mädchen in einem großen hellen Zimmer, umgeben von düsteren New Yorker Häuserfassaden versonnen die Querflöte spielt, rührt das ebenso ans Gemüt, wie die Szene auf dem Buchtitel, in der sechs gestandene Speditionsarbeiter ein abstakt üppig buntes, großformatiges Gemälde durch ein ehrwürdiges, von Säulen flankiertes Museumsportal tragen. Wir sehen sie Verlorenheit des Individuums in der großen Welt ebenso wie seine Geborgenheit in vertrauter Umgebung. Man kann, man sollte sich dieses Buch oft anschauen, am besten: Tag für Tag.
Und mein Lieblingsbild? Vielleicht das hier


Jean-Jacques Sempé
- "Tag für Tag" (Sempé in deutschen Sammlungen), 143 Seiten, Leinen mit farbigem Schutzumschlag, 91 teils farbige, teils schwarzweiße Illustrationen, 27 x 32 cm, mit einem Vorwort von Patrick Süskind, 34,90 €

Weitere Informationen unter:
www.diogenes.ch
Lesen Sie auch:
Jean-Jacques Sempé zum 75. - www.musenblaetter.de/artikel
Sprachlos komisch, Folge 8 - www.musenblaetter.de/artikel
Sempé "Monsieur Lambert" - www.musenblaetter.de/artikel