Sonntagmorgen (XV)

Im Schwimmbad

von Karl Otto Mühl

Foto © Andreas Stix / Pixelio
Sonntagmorgen  XV.

im Schwimmbad


Heute, Sonntagmorgen, bin ich nach dem Morgenkaffee gleich zum  Schwimmbad gefahren. Durch die Glaswände des Schwimmbades schaut dämmernd der graue Regentag.
Viele kenne ich von denen, die da herumschwimmen.
Im Wasser spähe ich umher, welcher Kopf zu dem vor mir strampelnden Körper gehört, den ich soeben unter Wasser vorbei schwimmen sah und ob ich ihn kenne. Im Laufe der Jahre habe ich von vielen  Schicksalen erfahren; Berichte über  Operationen, Ehe- oder Familienzustand gehört.
Viele ältere Männer kommen täglich, trinken danach regelmäßig ihr Bier im Restaurant oben auf der Empore..
Ich ruhe mich jetzt auf der Bank am Beckenrand aus, um gleichzeitig das gleißende Sonnenlicht aufzunehmen. Man bildet dadurch irgendein wichtiges Vitamin, habe ich  gelesen.
 
Ich sehe Wolfgang heranschwimmen, schlank, noch muskulös, frisches Gesicht, glitzernde, hellblaue Augen. Er ist Siebenundachtzig, treibt Sport, lebt allein, geht ins Gasthaus Essen. Unter der Dusche hat er einmal erzählt, daß in seinem Leben nicht alles leicht und glatt verlaufen sei, vor allem gab es Krankheiten. Aber er hat eine Freundin..
 
Seine Bahn wird geschnitten von Friedrich, der noch älter ist als Wolfgang.
Der erzählt oft vom Krieg in Rußland.  Es passe ihm nicht, daß er jetzt schlecht sehe und oft schwindlig werde. Wo ich im Krieg gewesen sei?
Ihm selbst mache nichts mehr Spaß. Er hat mich einmal gefragt, ob es richtig sein könne, wenn man irgendwas einnähme, Schluß mache. Am Ende hat  er aber gelacht und gesagt, so etwas mache er natürlich nicht.
Jetzt ist Wolfgang gerade auf gleicher Höhe mit mir. Mit seinen alten Augen hat er mich erkannt und nickte mir zu. Er gleitet ohne besondere Anstrengung vorwärts, zeigt, wie wohl er sich im Wasser fühlt. Sonnenflecken tanzen um ihn, hellgrün schwappt das Wasser. Feiertagsstimmung.
 
Wolfgang blickt  mich bedeutungsvoll an und ruft: “Uns geht es ja doch gut.”
“Du hast es genau getroffen”, sage ich.
Dann mache ich einen Durchgang in der Sauna. Hier war immer schon ein Altherrenclub, lauter Grauköpfe, wie sie oft vormittags auch im Getriebe der Stadt überwiegen.
Die hier sind fast alle gutsituiert, fast alle strahlen Selbstbewußtsein und eine Art von Kompetenz aus, vielfach Geschäftsleute.
Das braune Holz  der Saunawände schimmert. Ab und zu zischt ein Aufguß. Die zufriedenen, alten Männer sitzen links und rechts neben mir. Hier fühlen sie sich sicher, darum kommen sie  gern.
An mir rinnt bereits der Schweiß herunter,
Das Wohlgefühl räkelt sich in Bademänteln wochenendselig auf den Liegen. “Das ist der beste Augenblick der Woche”, sagte ein großer, rundlicher Beamter mit Kindergesicht; eine Frau, die Diätküchenchefin in einer Klinik war, kommt mit gerötetem Gesicht aus dem Schwitzraum; der alte Flugzeug-Ingenieur, den 1945 die Russen mit nach Moskau genommen hatten, grüßt aufmerksam und kollegial, und ich fühle mich längst aufgenommen in die Gemeinde freundlichen Einverständnisses, worin auch immer dieses besteht. Wahrscheinlich gehört auch dazu, daß man nicht ganz arm zu sein hat.
Heute sind wenige Frauen anwesend. Auch das gehört zum Einverständnis, Körperliches, insbesondere Geschlechtsspezifisches, wird nicht beachtet; nicht, ob ein Frauenhintern länglich oder halbkugelig ist; dies alles  verursacht nicht einmal geheime Erregung. Wer so empfindet – und hier empfinden wohl alle so, der gehört schon einer gewissen Elite an. 
 
Immer wieder erfahre ich Neues, Erstaunliches in der Sauna. Manchmal sind es simple Dinge, aber ich habe dennoch nie von ihnen gehört. Es gibt eine Pflanze, die “fette Henne” heißt. Ich finde das unglaublich. Ein andermal wollte mich ein Hobby-Imker überreden, mir unbedingt einige Bienenstöcke anzuschaffen. Die Welt würde völlig anders für mich aussehen, wenn ich erst einmal über eigene Bienen verfügte. Und sie stachen ganz selten!
Der freundliche, füllige Mann mit den Bienen sitzt heute schwitzend eine Bank höher. Er lacht gerne, er lacht meistens, auch heute, als er  von einem kürzlichen Unfall mit grausigen Verstümmelungen der Opfer berichtet. Dieses Thema ist für einen bärtigen, älteren Mann wieder Anlaß, von seinen Gelenkschmerzen zu berichten. Ob es eigentlich nicht besser wäre, einfach Schluß zu machen? Dann spürte man nichts mehr.
Schon wieder denkt einer an Selbstmord in dieser friedlichen Welt.. Ich versuche, ihm diesen Gedanken auszureden. Die Welt, die schöne Natur, dieser abartige Anblick von Leuten, die sich umgebracht haben, überhaupt, die barbarischen, schmerzhaften Methoden, derer es bedarf – nein, dann doch lieber abwarten.
Der Imker aber weiß einen Vorteil des Selbstmordes zu nennen: Man kann sich seine Ersparnisse, sein restliches Geld so genau einteilen, daß es mit dem Hinscheiden auch aufgebraucht ist.
Bevor ich sterben muß, denke ich, möchte ich noch einmal ins Vorgebirge. Im Sommer, an einem heißen, moosgrünen Nachmittag, im Sonnendunst. Was für ein Unsinn! dachte es gleich darauf in mir. Alle moosgrünen Nachmittage, die du hattest, sie sind verschwunden, es passiert überhaupt nichts, das nicht sofort verschwände, alles passiert sozusagen umsonst. Es lohnt nicht, es zurückzuwünschen, es lohnt nicht einmal, sich Zukünftiges herzuwünschen.

Ich stehe auf, gehe nach nebenan in den Nebel des Dampfbades.
Das Leben geht ungeachtet aller Einsichten weiter, denke ich.


© Karl Otto Mühl - Erstveröffentlichung in den Musenblättern 2009
Redaktion: Frank Becker