Ein Leben mit Velveta

Rainer Moritz - "Ich Wirtschaftswunderkind"

von Frank Becker
„We had joy, we had fun...“
oder
Ein Leben mit Velveta
 
Rainer Moritz erzählt seine Zeit
 
Der Umschlag dieser kleinen, nichtsdestoweniger nahezu vollständigen Chronik der 60er/70er Jahre des vergangenen Jahrhunderts zeigt einen deutlich zufriedenen Menschen. Rainer Moritz hatte das Glück, in einer Zeit aufwachsen zu dürfen, in der das Erwachen bereits etwas weniger gehemmt verlief als in den 50ern, aber noch nicht so mit Zukunftsängsten belastet, wie es de Jugend von heute zugemutet wird. Aus den bürgerlichen Mittelstand zu stammen, eröffnet Perspektiven in alle Richtungen. Er hat die Augen und Ohren aufgesperrt, seine Kindheit und Jugend schon damals sehr wohl als solche verstanden und ein akkurates Gedächtnisprotokoll angefertigt, das dem etwa gleichaltrigen Leser Seite um Seite spontan manch verständnisvolles, zustimmendes herzliches Lachen entlockt. Den Nachgeborenen sei das Buch als Blick in die Welt ihrer Elterngeneration empfohlen, den um 20 Jahre (als der Autor) älteren hingegen als Blick in die Welt der Seelen ihrer Kinder, die sie damals vielleicht gar nicht verstanden haben.
 
Velveta, Wembley und der Kommissar

So, wie der Kabarettist Erwin Grosche einmal ein sehnsuchtsvolles Lied auf das verschollene „TriTop“ dieser Zeit gesungen hat (es gibt wieder welches, aber in Plastikflaschen!), läßt Rainer Moritz die Ikonen seiner Vergangenheit aufmarschieren. Velveta-Schmelzkäsequader und -ecken (Sie wissen schon, die man erst nicht aufbekam und die dann „austrockneten und dunkle, krustige Ecken ausbildeten“, Radi Radenkovic im Tor der „Löwen“ (für Laien: 1860 München), „Die Unverbesserlichen“ mit Inge Meysel im Fernsehen, das Wembley-Tor 1966, das keines war (der größte Betrug der Fußballgeschichte und die bis dato unvergessene Schmach, die im Endspiel der WM der deutschen Mannschaft von einem russischen Linienrichter zugefügt wurde), schließlich die Genugtuung 1974 gegen Holland. Im Fernsehen wurde Dr. Richard Kimble gejagt, der natürlich unschuldig war, freitags gab´s den Kommissar(„Rehbeinchen, mach uns mal `n Kaffee“), Bernd Clüver, Christian Anders, Dieter Thomas Heck und Peggy March in der ZDF-Hitparade und, na klar, die ersten zaghaften Schritte in Richtung der Entdeckung der Frauen. Da war nach dem heimlichen Anschwärmen von Lehrerinnen, Mitschülerinnen (mit Rang-Skala) und Filmschauspielerinnen die Tanzstundenfreundin Marion schon ein Fortschritt. Rat gab Dr. Sommer im BRAVO, und erste nackte Brüste gab es dort im Fotoroman oder am Kioskaushang, vor dem man sich unauffällig lüstern herumdrückte. Klassenfahrt und Schule, Familienausflüge und Tanten, Haarschnitt, Kinobesuch und erste Zigaretten. Hatten wir alle und alle erinnern sich gern. Zumal mit einer so liebenswerten Unterstützung wie durch Rainer Moritz´ Buch.
 
Haare länger, Röcke kürzer

Rainer Moritz erzählt sein Leben, das ebensogut das vieler seiner Jahrgangsgenossen sein könnte - denn die Tagesabläufe in einer geordneten Welt von damals glichen sich, die Schwärmereien, Träume, Wünsche und Ideale waren ähnlich, die Welt weitaus überschaubarer, die kollektiven Erinnerungen deutlicher - er erzählt also sein Leben mit bemerkenswerter Offenheit und Heiterkeit, denn er erinnert sich gerne. Seine Zeit, in der die Haare länger und die Rocksäume kürzer wurden, war eine gute Zeit. Da macht es so richtig Spaß, sich mitzufreuen und noch einmal zu erleben, wie sich erster Protest gegen die bürgerliche Ordnung und das Aufkommen der Atomindustrie regte. Die 299 Seiten werden nicht ein einziges Mal langweilig, mehr noch, man freut sich bei jedem Umblättern auf das Wiedererkennen von Umständen und Situationen, auf die Begegnung mit bekannten Namen aus Sport, Politik, Film und Musik, Marken und Titeln von Filmen, Büchern und Sendungen aus Rundfunk (ja, man hörte damals noch oft und gerne Radio!) und Fernsehen, das noch werbepausenfrei war. Dazu gehören auch ein wenig Melancholie und die leise Wehmut, die Rainer Moritz mitschwingen läßt. Wer Gerhard Henschels brillanten „Kindheitsroman“ gelesen hat, wird in Rainer Moritz´ „Ich Wirtschaftswunderkind“ die perfekte Ergänzung finden. Weglegen, bevor nicht die letzte Seite genußvoll auf der Zunge zergangen ist, geht nicht.
 
Rainer Moritz - „Ich Wirtschaftswunderkind“
© 2008 Piper Verlag, 299 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag, einige s/w-Illustrationen, Lesebändchen  -  ISBN: 9783492047654
19,50 €, ab Herbst auch als Piper TB
 
Weitere Informationen unter: www.piper-verlag.de