Sonntagmorgen (XIV)

und der deutsche Kaiser

von Karl Otto Mühl

Foto © Frank Becker
Sonntagmorgen (XIV)

und der Deutsche Kaiser
 
 
So wie ich laufen, schlurfen oder wandern heute viele durch den Wald. Wir alle merken kaum, daß wir auf dem freischwebenden Seil des Bewußtseins vorwärts tänzeln; um uns Grün, Gezweig und Vogelstimmen, hinter uns die paar Sätze, die wir am Frühstückstisch gewechselt haben (sind wir mit diesen Menschen von soeben im Reinen?), über uns in luftiger Höhe die geschehende und befürchtete Welt voll Gräßlichkeiten, Gefahren, Krankheiten, Absturz- und Armuts-Bedrohung, und dem unbegreiflichen Versprechen unseres eigenen Todes. Die Zeit nach dem Tod stellen wir uns besonders traurig vor, wir schluchzen auf bei dem Gedanken, wie trostlos es für die Zurückbleibenden ohne uns sein wird. Und das Unvorstellbarste ist die versprochene Ewigkeit. Ewigkeit, das ist wie eine weiße Scheibe, die keine Begrenzungen hat. Wer jemand quälen möchte - und hätte die Macht dazu -, der müßte dem Opfer anbefehlen, sich ununterbrochen diese Scheibe vorzustellen.
 
Aber jetzt trifft uns das Sonnenlicht mit ungeheurer Macht, mit der würzigen Morgenluft atmen wir unsere eigene Seele ein, und ich meine, nie mehr an Unangenehmes denken zu müssen. Der Pott Kaffee steht schon auf dem runden Tischchen neben dem Dreieckstisch, die Bäckerin hat mein Auto halten gesehen. Ich kaufe die Morgenzeitung. Einer meiner Rentnergenossen, der seinen Dackel draußen angebunden hat, kommt mit seinem Kaffee an meinen Tisch. Ab und zu schielt er in meine Zeitung.
„Ich gucke am liebsten in die Zeitung, die jemand anders gehört“, sagt er.
„Verstehe ich“, antworte ich. „Mit den Frauen machen Sie es wahrscheinlich auch so.
Der Witz gefällt ihm.
 
Kurzer Auftritt eines jungen Mannes. Er ist kahlgeschoren, Schlappen, weißes T-Shirt, tiefliegende Augen, blasse Haut . Ich muß an Zombies denken. Will ich nicht, denke schnell darüber nach, was Schönheit ausmacht. Das wird schnell entschieden: Immer ist schön, wer glücklich ist. Der Unterschied zu „sich diebisch freut“ wird hier betont.
Hier habe ich alles ausgeschöpft, das Horoskop gelesen (Ich verschwende meine Kraft an Prestige-Objekte, steht da. Wahrscheinlich sind die neuen Schuhe gemeint, die ich mir gekauft habe.) Ich verlasse die Bäckerei, die jetzt nur von einer einzigen Bäckerin besetzt ist. Zu anderen Zeiten sind es drei.
 
Die nächste Station für mich ist heute das Schwimmbad. Fünf Männer stehen unter der Dusche. Manche waschen sich völlig nackt, manche drehen sich dabei schamhaft um, manche lüpfen nur die Badehose. Ich ziehe aus diesen Beobachtungen nur Rückschlüsse mit Vorbehalt.
Wilhelm steht mir gegenüber unter der Dusche. Er ist 92 Jahre alt. „Wie schaffst du es nur, so schön schlank zu bleiben“, sage ich zu ihm. Er ist wirklich ein zierlicher Mann, keine Spur von Bauch, die Rippen bilden sich ab, und keine erschlafften Muskeln.
 
Man müsse einfach was tun, sagt er. Täglich Schwimmen. Den Haushalt selber machen. Kontakte haben. Auch die Freundin nicht vernachlässigen.
Ich bestätige alles, es sei wunderbar. Aber das Essen, das Essen sei doch das Wichtige. Ohne Mäßigung bleibe man nicht so schlank. Das wolle ich von ihm lernen.
„Nee“, sagt er gleichmütig, „da drauf achte ich nicht. Ich esse soviel wie ich will. Komisch, ich bleibe trotzdem schlank.“
Ich bin eigentlich enttäuscht. Wir haben leider unser Schicksal nicht in der Hand.
 
Bei der Heimkehr vom Schwimmen komme ich gerade rechtzeitig zum Mittagessen. Oma, 99, hat sich zu uns gesellt, nach dem sie bereits die ersten Nachrichten im Fernsehen wahrgenommen hat.
Nach und nach nehmen wir am Mittagstisch Platz, fast die ganze Familie. Draußen gehen Kirchgänger auf dem Heimweg vorbei. Eine Nachbarin, deren kürzlich geborener Sohn im Kinderwagen auf den Namen Lars Finn getauft wurde. Ich neide ihm diesen Namen, der so erfrischend und zukunftsfreudig klingt.
 
Während wir noch abwartend sitzen, frage ich Oma, ob wir heute wieder einmal ein Gedicht hören dürfen. „Erst du“, sagt sie. Natürlich kann ich mich nicht drücken, ich trage den „Panther“ von Rilke vor, eines der Gedichte, an die ich mich vollständig erinnere. Oma antwortet mit dem Erlkönig, und alle am Tisch hören anerkennend zu.
 
„Und jetzt singen!“ schlage ich vor. Oma gibt einschränkend zu bedenken, daß sie mit der Stimmhöhe nicht mehr so stabil sei, aber dann singt sie ein Lied, von dem sie sagt, daß es in ihrer Jugend genau so populär gewesen sei wie die Nationalhymne,
nämlich:
 
Dem Kaiser sei mein erstes  Lied,
ihm klingt mein erster Klang.
Ihn preis ich, was ich preisen kann
mein ganzes Leben lang.
 
Ob jedes Wort stimme, wisse sie nicht, sagt Oma, als sie in unsere begeisterten Gesichter. blickt. Ich sage, das sei so gut gewesen, daß wir jetzt bereits mit unserem Sonntagsritual einsetzen könnten. Ich fülle die Schnapsgläser mit Eierlikör, erhebe meines und proste Oma zu. Auch sie erhebt das Glas – und damit sind wir schon mitten in den Lüsten des Sonntags.



© Karl Otto Mühl - Erstveröffentlichung in den Musenblättern 2009
Redaktion: Frank Becker