Beijing Symphony Orchestra in der Essener Philharmonie

Chinas Weltklasse-Orchester vor peinlich leerem Haus

von Peter Bilsing

Foto © Frank Becker
Mauern einreißen…
 
Beijing Symphony Orchestra
in der Essener Philharmonie
 
Chinas Weltklasse-Orchester am 5. Mai
vor peinlich leerem Haus  
mit einem sensationellen Konzert
 
 
5 Jahre Philharmonie: "Bilder einer Ausstellung"
Welturaufführung im Rahmen der Europatournee 2009
 
Li Biao, Percussion
Beijing Symphony Orchestra & Tan Lihua, Dirigent
 
Fang Kejie (Tibetischer Tanz)
Bao Yuankai (Chinesische Volksweisen)
Guo Wenjing "The Rite of Mountains" - Konzert für Percussion und Orchester, op. 47 (UA)
Modest P. Mussorgski "Bilder einer Ausstellung" - Orchesterfassung von Maurice Ravel
 
 

Man reibt sich verwundert die Augen: da spielt eines der ganz großen chinesischen Weltklasse-Orchester in der Essener Philharmonie (und das bei sehr moderaten Eintrittspreisen!) und es verlaufen sich gerade einmal 200 Besucher in das Konzerthaus, wovon gut die Hälfte sicherlich geschätzte Freunde und Angehörige waren. Das bedeutet bei der großen Mahler-Besetzung mit der die Chinesischen Musiker antraten (Angehörige abgezogen), daß sich  mehr Musiker auf dem Podium als echte Zuhörer im Auditorium befanden. Was für ein Schande! Sieht so das weltoffene und aufgeschlossene Publikum einer „Kulturhauptstadt 2010“ aus? So etwas habe ich noch nie erlebt. Und möchte ich auch nie wieder erleben. Sicherlich undenkbar in Konkurrenzstädten wie Köln, Düsseldorf oder Dortmund.
 
Hier ist man als Kritiker und Deutscher dann wirklich peinlich berührt und möchte sich bei den wunderbaren Gästen aus Fernost, die mit einer ganz großen musikalischen Leistung und Hingabe aufwarteten und für das „elende Häuflein“ auch noch vier (!) Zugaben drauflegten, wirklich herzlich entschuldigen. Es sei mit dieser Kritik geschehen. Da hat man wirklich Tränen in den Augen. Was für ein Jammertal tut sich eigentlich beim Essener Publikum jenseits des ständig und penetrant gespielten immergleichen „Concerto populare“ von Beethoven, Mozart, Brahms, Dvorak und Tschaikowski auf?
Ein besseres und intelligenteres Programm als das von den chinesischen Gästen mitgebrachte läßt sich doch kaum finden! Endlich spielt ein ausländisches Orchester auch einmal Unbekanntes aus seiner Heimat. So fanden sich im ersten Teil dieses wunderbaren, einsam schönen Konzertabends gleich drei große chinesische Stücke - während man im zweiten Teil die nicht vorhandenen Besucher quasi mit den populären „Bildern einer Ausstellung“ belohnen wollte.
 
Der Einsteiger, Fang Kejies Stück mit dem Titel „Re Ba Wu Qu“, überzeugte mit schönen Linien und überträgt auch für europäische Ohren sehr gut rezipierbare tibetische Volksmusik. Eine perlige Musik für großes Orchester, welche die Lebensfreude und Unbefangenheit der verschiedenen Tibetvölker grandios widerspiegelt. Die Ausdrucksmittel sind einfach und klar und der Komponist setzt auf präzise Technik. Das Stück war ein Auftragswerk des Beijing Symphony Orchestra. Großer und herzlicher Beifall der sichtlich überraschten Zuhörer; so prachtvoll und eingängig kann also chinesische Musik sein
Bao Yuankai zählt nicht nur zu den beliebtesten Komponisten des großen Reiches im Osten, sondern auch zu dessen gefragtesten und populärsten Kompositionslehrern. Trendsetter und Richtungsgeber sind seine Werke seit den 70er Jahren; alles Musik-Stücke, die in ihrer sinfonischen Form westlicher Musik ähneln, ohne allerdings direkt etwas zu kopieren. Im Gegensatz z.B. zur Musik der Peking-Oper, die für viele Westeuropäer, da nimmt sich der Rezensent nicht aus, schwer erträglich ist, erklingen Yuanakais „Chinesische Volksweisen“ doch sehr geläufig. Sie entstammen seiner „Rhapsody of China“ einem großen Zyklus aus mehreren sinfonischen Werken - ähnlich der Konzeption von Smetanas „Mein Vaterland“. Bemerkenswerte Musikstücke von gelegentlich sogar Mahlerschen Dimensionen.
 
Die Krönung des ersten Teils war jedoch wieder ein Auftragswerk des Orchesters „Der Ritus der Berge“ als „Welturaufführung im Rahmen der 2009er Tournee“. Ein gigantisches Schlagzeugkonzert, welches ursprünglich der Vergangenheit gewidmet war, dann aber anläßlich des großen Erdbebens vom Mai 2008 und in Erinnerung an die vielen (rund 80 000) Opfer vom Komponisten Guo Wenjing umkomponiert wurde.
Für diese Tournee hatte man einen der weltbesten Percussionisten gewonnen: Li Biao. Ein Ausnahmemusiker, der nicht nur über 50 verschiedene Schlaginstrumente perfekt beherrscht, sondern auch als einer der international gefragtesten Solisten in diesem Genre gilt. Li Biao ist Gründer und künstlerischer Direktor des Beijing Percussion Festivals. Inzwischen lehrt er als Professor am Beijing Zentral Konservatorium und an der Hanns Eisler Musikhochschule in Berlin.
 
Was Wenjings Komposition an Klangfarben in den drei Sätzen hervorzauberte, ist mit Worten kaum zu fassen. Sei es die frappierende Geschwindigkeit, mit der er gelegentlich bis zu 10 Trommeln, Becken oder Gongs jedweder Art gleichzeitig bearbeitet, oder jene überirdischen Klangwolken, die er dem Marimbaphon entlockt - vieles klingt wie göttliche Zauberei und ist doch brillante irdische Schlagwerkkunst, begleitet von gewaltigen Klang-Clustern des Riesenorchesters. Den Zuschauern blieb die sprichwörtliche Spucke weg und der Mund vor Bewunderung teilweise offen stehen. Wenjings Musik kam wie ein Orkan über das staunende Publikum. Nie gehörte Klangkombinationen, schmachtende Rhythmen, explosive Spannungsfelder… Was für eine unfaßbare Musik-Eruption. Das begeisterte Kleinpublikum feierte und bravierte den Wunderknaben dermaßen enthusiastisch und laut, als wäre die Philharmonie ausverkauft.
 
Der Stimmung des Publikums nach hätte man durchaus ein Dacapo im nun folgenden zweiten Teil bringen dürfen, statt der bekannten Ausstellungsbilder.
Doch das wäre ein Fehler gewesen, denn Dirigent Tan Lihua und seine 130 Musiker absolvierten einen furiosen Parforce-Ritt durch die Ausstellung. Teilweise etwas rauh, aber doch dann wieder mit großem Feingefühl dirigierte er einen Mussorgski abseits der üblichen Konzertroutine. Die Musiker folgten ihm mit sehr großer Präzision und Konzentration. Eine ganz außergewöhnliche Interpretation, die frisch und sporadisch mit unerhörten Nebentönen aus dem Siechtum der routinierten Alltags-Abo-Konzerte ausbrach. Ein neuer Mussorgski, vielleicht ein zeitgemäßerer als üblich.
 
Großem Jubel folgten unfaßbare vier Zugaben für die wenigen doch umso begeisterten Essener Musikfreunde. Einen besseren, sympathischeren und engagierteren internationalen Friedensbotschafter als dieses fabelhafte Orchester mit seinem tollen Solisten kann ich mir nicht vorstellen. Da kommen 130 Musiker um die halbe Erdkugel gereist, um einer handverlesene Schar von Musikfreunden in der Kulturhauptstadt des Landes Freude zu bereiten. Was für ein
Konzertabend! Ich werde ihn in großer Demut nie vergessen. Danke Ihr chinesischen Freunde! Bravissimo!
 
Redaktion: Frank Becker