Aufbruch und Besinnung

"Fragmente zur Melancholie" - Bilder aus dem ersten Jahrhundert der Fotografie

von Frank Becker
Aufbruch und Besinnung

Was macht eigentlich die Melancholie der Bilder aus, welche die Herausgeber-Gruppe um Heiner Bastian für den bei Hatje Cantz erschienenen Band "Fragmente der Melancholie" ausgewählt und  zusammengestellt hat? Diese Fotos, entstanden etwa zwischen 1840 und 1870, verströmen in der Tat mitunter beinahe lähmende Tristesse. Ist es die häufige weitläufige Leere der Fotografien wie bei Greene, hat die weitgehende Abwesenheit von Menschen diesen Effekt, sind es die über die Fotoplatten ins Bewußtsein eingebrannten Bilder von Verfall und Armseligkeit? Ist es das stille Braun der Duotone-Bilder? Das einzige Portrait und vielleicht berühmteste der Bilder ist Lewis Carrolls vom Glasnegativ auf Albuminpapier abgezogene "Annie Rogers Kneeling Beside a Chair" aus dem Jahr 1868.

William Mallord Turner malte 1838 sein Bild "The last journey of the

W.M. Turner - The Fighting Temeraire
Fighting Temeraire", ein Gemälde der nüchternen Erkenntnis des  voranstürmenden technischen Zeitalters. Mit prophetischer Sicht nahm er ein Motiv  in den Fokus, das 18 Jahre später Gustave Le Gray, einer der bekanntesten Foto-Künstler der Gruppe von Barbizon, unter dem Titel "Vapeur" (Buch S. 45) fotografierte. Es wäre interessant zu erfahren, ob er das Bild der Temeraire gekannt hat. Daß die französischen Maler und Foto-Künstler dieser Epoche stark von Turner beeinflußt gewesen sind, ist bekannt. Die Melancholie des Vorgangs erscheint
auf Le Grays düsterem Duotone-Abzug, auf dem das abgetakelte Segelschiff in die

Le Gray - Vapeur
schwärzliche
Dunkelheit   von Abendwolken geschleppt wird, die nicht einmal mehr den Glanz der untergehenden Sonne zulassen, noch intensiver. Turner starb 1851, hat also noch sehr genau die Entwicklung der Fotografie mitbekommen und sicher auch das Wort Paul Delaroches gekannt: "La peinture est mort".

Nicht nur durch die Ausstellung "Barbizon" wissen wir, daß es sich natürlich nicht so verhielt. Beide Genres profitierten voneinander. Einer der großen Philosophen des 19. Jahrhunderts, der Däne Søren Kierkegaard, hat sich explizit mit der Frage der Melancholie auseinandergesetzt, litt er doch selbst unter diesem Phänomen. Als er 1855 starb, hatte die Fotografie ihren ersten künstlerischen Höhepunkt erreicht. Wie Turner hat Kierkegaard die Entwicklung der Daguerrotypie erlebt. War die Wiederkehr der Melancholie ein Produkt des ausklingenden Biedermeiers? Zeitlich jedenfalls fallen alle die genannten Entwicklungen des Gemüts, der Besinnung und des Aufbruchs in Technik und Kunst zusammen. Daß die Fotografie dazu kam, ist wahrscheinlich ein Glücksfall, ohne den die Tristesse der Zeit vielleicht nicht in so großer Fülle festgehalten worden wäre.

    
Beispielbild


Fragmente zur Melancholie
Bilder aus dem ersten Jahrhundert der Fotografie

Hrsg. von Heiner Bastian, Alexander Schwarz, Wilfried Wiegand

© 2006 Hatje Cantz

Geb. mit illustriertem Schutzumschlag, 160 Seiten, 83 Duotone-Abbildungen
39,80 €
ISBN 3-7757-1903-2

Weitere Informationen unter:
www.hatjecantz.de