Ausgerechnet Löwen

Ein Essay

von Andreas Steffens

Foto © Frank Becker

Ausgerechnet Löwen

Hans Blumenbergs Fabeln

Ob der Baron auch wirklich todt ist?
So fragten sich manche, als Adolph Freiherr Knigge im Mai 1796 gestorben war, nach einem ebenso kurzen wie intensiven Leben als einer der ersten freien Schriftsteller in Deutschland. Seine Zeitgenossen hatte er mit seinen Schriften ganz neuer Art, in denen er ein persönliches Nachdenken über das, was alle angeht, öffentlich machte, erschreckt und begeistert. Man mochte es zuerst nicht glauben, daß er nun verstummt sein sollte, fürchtete oder hoffte, bei der Nachricht von seinem Tod handele es sich um eine politisch motivierte Falschmeldung.

Als Hans Blumenberg 1996 starb, konnte man hören, sein Übermaß an Diskretion werde es wohl verhindern, daß es Veröffentlichungen aus seinem Nachlaß gebe, den man sich kaum umfangreich genug vorstellen mochte. Seitdem sind in ebenso rascher Folge wie zu seinen späteren Lebzeiten so viele Schriften erschienen, daß man sich erstaunt fragen mag, ob er wirklich gestorben sei, oder nicht vielleicht seinem Drang nach Verborgenheit durch die lancierte Fehlmeldung seines Todes selbst die letzte Steigerung gegeben habe, um in vollkommener Ungestörtheit weiter an seinem philosophischen Gewebe spinnen zu können.

Seit im ersten Heft des 28. Jahrgangs der "Akzente" im Februar 1981 sein Essay "Eine imaginäre Universalbibliothek" als Vorabdruck aus seinem erfolgreichsten Buch über "Die Lesbarkeit der Welt" erschien, hatte der Philosoph Blumenberg nicht mehr nur ‘rezipierende’ Kollegen vom Fach, sondern von da an auch außerakademische Leser.
Kurz darauf konnte man im August-Heft der "Akzente" die ersten jener Glossen und Kurzessays lesen, die Blumenberg in der Folge von einer wachsenden Öffentlichkeit als Schriftsteller eigener Prägung entdeckt werden ließen.
Eine lautete "Zweimal ein Löwe", und gab eine äußerst verknappte rhetorische Beobachtung. Eine Miszelle aus dem Umkreis von Blumenbergs umfangreichen Studien zur Metaphorik der europäischen Welt- und Denkbilder.

 Das Erscheinen des nunmehr siebten Nachlaß-Bandes bereitet die Überraschung, daß "Löwen", so sein lapidarer Titel, selbst eines seiner ‘Lebensthemen’ gewesen sind.
Ausgerechnet Löwen. Von dem Jongleur der Überlieferungen hätte man sich ein Buch über Elefanten vorstellen können, und auch wüschen mögen, die Gedächtniskünstler unter den Tieren.
Die Logik dieser 33 Glossen ist die der Fabel: wie in ihr geht es auch in diesen Stücken einer heiteren Deutungsvirtuosität diesseits der "großen" philosophischen Obligationen nicht um das Besprochene, sondern um das, was sich anhand von ihm zeigen, oder entdecken läßt. Die Leichtigkeit, mit der dabei auch so Schwerstkalibriges wie das Theodizeeproblem erörtert wird, hat nichts von Leichtfertigkeit, und ist unendlich weit entfernt von Argumentationsnachlässigkeit, wie sie philosophischer Akademismus am Schriftsteller Blumenberg beargwöhnt. Daß man derartiges mit Vergnügen lesen kann und dennoch nicht unbelehrt bleibt, sollte endlich als ein Zeichen höchster Qualität gelten.

Auch dieses Bändchen weist verschiedene Überschneidungen mit anderen Nachlaßveröffentlichungen auf. Was bei anderen Autoren als ärgerliche editorische Nachlässigkeit stören mag, gehört bei diesem indes zur intellektuellen Signatur: wollte man es so nennen, so besteht seine „Methode“ eben darin, bei seinen Gängen durch die europäische Geistesgeschichte Zeugnisse immer wieder noch einmal, in den unterschiedlichsten Konstellationen und Perspektiven zu bedenken. So besagt dieselbe Anekdote etwas anderes, je nachdem sie im Kontext der "Astronoetik", der "Verführbarkeit des Philosophen" oder des "gerade noch Klassiker" gewordenen Fontane erscheint.
Die Kontextwanderung macht weitere Regionen des Netzes von Bedeutungen sichtbar, denen Blumenberg zeit seines Lebens in seiner Ikonologie des europäischen Diskurses nachgespürt hat, indem er dem Denken in Relationen eine eigene spekulative Prägung gab. Im Nachdenken der Anekdoten und Fundstücke wird bei minimalen Bedeutungsverschiebungen der Funken eines übersehenen Sinnes geschlagen.

So, wenn er die Erstaunlichkeit bedenkt, daß Löwen und Elefanten, die in keinem Zoologischen Garten fehlen dürfen, dort scheinbar in Eintracht miteinander leben, obwohl von den beiden Tieren das eine sehr fleischeslustig, das andere sehr fleischhaltig ist. Das hat einen Grund, der die Fabel aktiviert: Sie interessieren sich nicht füreinander. Das ist die solideste Grundlage fürs Überleben der einen mit den anderen. Verglichen damit wäre jede Art von ‘Liebe’ gefährlich. Etwas zum Nachdenken für die, denen es immer nicht genügen will, daß nur ‘nichts passiert’. Sicherer als die Phrase, daß nichts passieren darf, ist die, daß nichts passieren kann. Und die sicherste Bedingung dafür ist wiederum, wie es zwischen dem Elefanten und dem Löwen steht: Der eine ist für den anderen abwesend.
Warum diese Art der Aufmerksamkeit nicht nur eine Sache individuellen Autortemperamentes ist, sondern zugleich elementaren philosophischen Anforderungen gerecht wird, verdeutlicht ein kurzer Satz im letzten Stück: Menschen sehen nie dasselbe, selbst dann nicht, wenn sie das gleiche anschauen. Deshalb kann nichts gar nicht oft und verschieden genug angesehen werden.

Für kaum einen Bereich menschlicher Existenz dürfte das von solcher Bedeutung sein wie die Politik. Hier bietet die kleine Sammlung ein Glanzstück an philosophischer Geschichtsschreibung. Der Text über "Das Abwesende am Seelöwen" erörtert anhand der unter dem Decknamen "Seelöwe" vorbereiteten Invasion Englands eine Frage, die zu den immer noch nicht ganz geklärten der Zeitgeschichtsforschung gehört: Wie führte der Führer?
Auf viereinhalb Seiten wird so stringent erschlossen, wie der "schwache Diktator" Hitler der unangefochtene "Führer" bleiben konnte, daß man sich den Text in jedes zeithistorische Seminar  wünscht, in dem die inzwischen klassische Kontroverse zwischen den Verfechtern eines "monolithischen Führerstaats" und denen einer "polykratischen Kompetenzanarchie" behandelt wird: Das Verfahren läßt sich auf eine Formel bringen: Es war für die, mit denen Hitler sich selektiv umgeben hatte, noch wichtiger, den Willen des Führers zu kennen, als ihn auszuführen. Und den Willen Hitlers zu kennen hieß, jederzeit sicher zu sein, was er wollen würde, ohne es schon gewollt zu haben. Das ist Analyse der modernen Tyrranis in zwei Sätzen.
Bedenken, wie sie sich gegen eine so breite Nachlaßverwertung richten mögen, wie sie im Falle Blumenbergs geschieht, gibt dieses Bändchen kaum Nahrung. Es handelt sich bei ihm um keinerlei Neben- oder Nachverwertung, zeigt den Autor vielmehr auf der Höhe seiner Kunst der philosophischen Fabel. Es ist ein ebenso kurzweiliger wie erkenntnisstiftender Beleg dafür, daß es sich bei der von diesem Autor lebenslang geübten Kunst der Glosse um keine schnurrigen Beiläufigkeiten eines Philosophen handelt, dessen Skriptomanie ihn selbst Entspannung von den Hauptarbeiten der "großen" Theorie noch im Formulieren von literarischen Kleinigkeiten hätte suchen lassen.
Es zeigt sich, wie sehr der Autor die in der "Verführbarkeit des Philosophen" lapidar aufgestellte Forderung Philosophie darf nicht schwer sein, auch an sich selbst richtete. Denn:  Sonst ist etwas faul bei dem, der sie vertritt - und natürlich ist bei jedem, der etwas vertritt, auch etwas faul.


Hans Blumenberg, Löwen, Frankfurt/M 2001, Bibliothek Suhrkamp Band 1336, 118 Seiten

Privatdozent Dr. phil. habil. Andreas Steffens lehrt Philosophie mit den Schwerpunkten Kulturtheorie, Anthropologie und Ästhetik an der Universität Kassel