Casper

Eine Erzählung

von Karl Otto Mühl

Karl Otto Mühl - Foto © Frank Becker

Casper


Eines Tages wurde alles anders. 



Patrick Gallagher war auf einem seiner vielen Urlaube, und in dieser Zeit wurden Willy Casper und viele andere aus dem Camp in kleinere Camps verlegt. Willy Casper kam nach Naples, einem kleinen Ort an der kanadischen Grenze, wo die Gefangenen Transportarbeiten in einer Marmeladenfabrik auszuführen hatten. Es war dies die Folge des Briefes an das Rote Kreuz. Gefangene, die „trouble“ machten, unnötigen sogar, waren gefährlich und mußten voneinander isoliert werden.

Alle nahen Freunde von Casper waren in andere Camps verlegt worden. In den freien Stunden stand er am Lagerzaun und spürte den frischen Wind, der von Kanada herüber wehte, wie einen Wind der Hoffnung. Was auch immer kommen sollte, es war kein Krieg mehr.

Die Gefangenen arbeiteten nachts. Casper stand am Fließband in der nächtlichen Halle, hob Tröge mit Weintrauben und stellte sie auf das Band, Tröge, die ununterbrochen durch Lastwagen an der Rampe angeliefert wurden. Er mußte sich anstrengen, die Tröge  waren schwer für den schmächtigen Jungen. Man sah ihm die Anstrengung an. Er fiel zwei Aufsehern auf, die ihn beobachteten. Schließlich kam einer heran und sagte, er habe eine andere Arbeit für ihn. Er führte Casper zu einem Kessel, in dem Wasser oder Traubensaft, Casper bekam es nie heraus, erwärmt wurde. Seine Aufgabe war, das Thermometer am Kessel zu beobachten und sofort zu melden, wenn es eine bestimmte Marke überschritt. Wahrscheinlich hatten die Aufseher angenommen, daß er schnell mit der Leistung nachlassen und den Ablauf verlangsamen würde, vielleicht waren sie auch mitleidig. Casper dachte flüchtig darüber nach. Zu einem stärkeren Gefühl, vielleicht Dankbarkeit, kam es nicht bei ihm. Gefangene, Gedrückte, Geduckte und Unterworfene haben keine ungehemmten, deutlichen Gefühle. An Affekten mangelt es ihnen wahrscheinlich nicht.

Er saß auf dem Betonboden, mit dem Rücken an den Kessel gelehnt, und schielte ab und zu nach dem ihm anvertrauten Thermometer. Hier sitze ich, die Zeit verrinnt nutzlos; Zeit, in deren Adern flüssiges Gold rinnen würde, wenn ich über sie verfügen könnte – aber auch gewonnene Zeit; Zeit, in der ich nicht totgeschossen werde, Zeit, in der ich nicht stöhnend schweren Tröge aufs Laufband wuchten muß.

Während Casper träge in die gespenstisch erleuchtete Halle schaute, fiel ihm an der Presse ein wie mit Blut übergossener langer, blonder Junge auf.  Wenn sich der Deckel der Presse senkte, spritzte der rote Traubensaft über ihn und floss an ihm herunter. Der Anblick prägte sich ein.

Zunächst war er inmitten der anderen fast immer allein.
Im Camp duschten morgens alle und legten sich schlafen.  Sie wachten meistens schon mittags auf. Casper unterhielt sich manchmal mit dem Blonden, der Ulrich Füldner hieß, Klavier spielen konnte und daheim mit seinen Eltern in Konzerte gegangen war, und das klang nach einer höheren, besseren Welt. Vielleicht werde er eines Tages eine Galerie eröffnen, sagte er. Und er konnte zeichnen, auffallend gut sogar. So mußte er manchmal Aushänge für das Schwarze Brett gestalten. Mit seiner Mutter sei er viel herumgereist und habe Ausstellungen besucht.

In der Verwaltungsbaracke stand etwas ganz Seltenes – ein Klavier. Eines Tages sah er Ulrich Füldner am Klavier. Er spielte allein und hingegeben. Casper stand am Türeingang und blickte zu ihm hinüber. Plötzlich hätte er weinen mögen – daß es so etwas gab wie solche Klänge von himmlischer Süße, einen Jungen, der mit ihnen verschmolz, und draußen und überall eine Welt, durch die qualvolle Schreie klangen und die nach Leichen stank. Es durfte sie nicht geben, Nein und tausendmal Nein. Ein Gott musste aufstehen und seine Locken schütteln, er wischte sie beiseite, diese Welt, die Sonne brach durch, und dann war da nur noch Hellblau und weiße Wolken, und diese Musik.


© Karl Otto Mühl - Erstveröffentlichung in den Musenblättern 2007