Das Kind - Zwischen Verhängnis und Versprechen

Ein Essay

von Andreas Steffens
Andreas Steffens

Das Kind
Zwischen Verhängnis und Versprechen
 
 
   Keine Geburtsanzeige ohne Ausdruck der Freude, die das Ereignis, das sie mitteilt, ausgelöst hat.
Die Freude ist - meistens - echt; ihr Motiv - fast immer - falsch. Ist die Freude über die Elternschaft doch größer als die über das Kind.
   Der gerne von Großeltern gegebene, selten fehlende Hinweis auf den ‚Stolz’ der Eltern verrät die Genugtuung in der Freude: das Versprechen, das seine Eltern sich mit ihrem Kind als Garant eigener Fortdauer über den Tod hinaus geben, auf den Weg zu seiner Erfüllung gesetzt zu sehen. Elternschaft ist Vorsorge für Nachleben.
   Das ist bedenklich nur in dem Maß, in dem es auf dem neuen Leben lasten wird. Und das wird sie, diese Freude, die die Erwartung enthält, fortzusetzen, was einen hervorbrachte. Kinder sollen es nicht nur besser haben, sie sollen auch Erben werden, in jeder Hinsicht.
   Im Sohn fortzuleben, ist die älteste und verbreitetste aller Vätererwartungen schon an Ungeborene, und die Ursache ungezählter Mädchentode. Was die Söhne schließlich gegen die Väter aufbringen muß, ist nicht deren Autorität, ohne die es keine erfolgreiche Lebenseinübung geben könnte, sondern ihre Anmaßung, über deren Abschluß hinaus als Vorprägung des Sohnes zum Nachleben des Vaters anzudauern.
   Mit dieser Erwartung, hat sie erst einmal begonnen, die Ausgestaltung der Elternschaft in Erziehung und Begleitung des Nachwuchses zu bestimmen, schleicht das Verhängnis der Genealogie sich in jedes neue Leben ein. Eines Tages wird es sich, ohne jede Einwirkungsmöglichkeit auf seine Ursachen, durch die Umstände seiner Herkunft vorbestimmt finden, die unendlich viel weiter zurückreicht als Familienerinnerung und Ahnentafel: bis an den Beginn aller Menschentage.
   Doch was Geschichte ist, erfährt jedes Leben in den Unmittelbarkeiten seines Hervorgebrachtwordenseins. Das Kind, das seinen Weg in sein Leben sucht, ist ihre Inkarnation. Menschen haben Geschichte, indem sie sie sind, weil die Kette der Fortzeugungen nichts anderes ist als die unendliche Wiederherstellung von Herkunft. Jede Zukunft unterliegt dem Gebot, Vergangenheit zu ermöglichen. Es muß neues Leben geben, damit vergangenes gewesen sein kann.
   So sind wir alle immer schon Erben. Auch die, denen nichts vererbt werden wird, müssen als Erben leben: der Welt und ihrer Geschichte, die unsere Existenz hervorbrachten. Die Kultur hat zur Folge und zur Bedingung, daß jeder das gesamte Gewicht und die gesamte Wohltat der gesamten menschlichen Erfahrung tragen muß  (Paul Valéry) (1). Gewicht und Wohltat der gesamten menschlichen Erfahrung – das ist die Konstellation der zweiten Offenbarung durch das Neue Testament: das Kind, zu dessen Gedenken Christen Weihnachten feiern, kam mit der Bestimmung in die Welt, zu deren Wohltat zu werden, indem es das ganze Gewicht des verfehlten Menschseins auf sich nahm.
   Puer natus est nobis, ist die ‚frohe Botschaft’, die der erste Satz der Weihnachtsmesse verkündet: Uns ist ein Kind geboren.
„Uns“ ist es geboren, nicht einfach geboren: es hat einen Auftrag, sein Leben hat ein Ziel. In diesem „uns“ steckt die ganze Last, die auf ihm liegt, die die schwerste ist, die je einem Kind zu tragen aufgebürdet wurde: die ganze falsche Welt.
   Aber genau darin ist dieses einzigartige Kind Stellvertreter aller Kinder. Jedes wird mit der ganzen Weltgeschichte geboren, die es in sich tragen muß, um sein zu können.
Dieses soll einst sterben zur Erlösung aller, die jemals vor ihm waren, und derer, die im Glauben an seine Liebestat nach ihm sein werden. Die Gewißheit, daß dieses Kind es tatsächlich tun, seine gottväterliche Vorbestimmung tatsächlich erfüllen wird, begründet die Freude in der Verkündung seiner Ankunft.
   Nichts sonst hat diese Freude so sinnlich ergreifend gestaltet wie Bachs Oratorium. Aber sie ist ganz auf dessen Beginn beschränkt. Nur dessen erstes Stück ist ganz ungetrübte Freude, ein vollkommenes Stück Musik, und das einzige, das Bach komponierte, das fast vollständig frei ist von der Schwermut, die ihn sonst Note um Note schreiben ließ. Die reine Freude, der Jubel kann nur dem Beginn gelten, dem, was in diesem Fall des besondersten aller Kinder aus ihm werden soll, nicht. Jedes Leben wird geboren, um zu leben; dieses eine aber, um zu sterben. Nichts könnte trauriger sein.
   Das Christentum formte sein Jenseitsversprechen der Erlösung des Menschen zu sich selbst in einer anderen Welt nach dem Urbild alles Künftigen, dem Kind. Im menschgeborenen Christkind geschieht die absolute Zuspitzung jener Last, die der menschlichen Kindschaft als Unerfüllbarkeit auferlegt ist. Christus, der Sohn, kann seines Gott-Vaters Willen nur durch sein Selbstopfer erfüllen. Oder, in theologisch korrekter Umkehrung, das Opfer um einer anderen und anderer Zukunft willen auf sich zu nehmen, macht den ‚Menschensohn’ zu Gottes Sohn. Gottes Vaterschaft erfüllt deren menschliches Ideal in der Identität von Vater und Sohn, die sich noch zur Trinität erweitert, die jener Heilige Geist vervollständigt, dessen Eingabe die Jungfrau Maria zur Mutter des Gott-Sohnes werden ließ.
   Daß diese Geschichte in ihren mythischen Details nur bestaunt, aber nicht verstanden werden kann, versteht sich. Doch das menschliche Muster scheint durch. Und nur deshalb konnte eine unverständliche Geschichte eine Menschheitshoffnung tragen.
Jede Geburt ist die Erneuerung des Erlösungsversprechens, das nichts anderes ist als Zukunftserwartung. Jedes Kind ist das lebendige Bild einer Erwartung, die sich in seiner Zukunft erfüllen soll.
   Damit ist jedes neue Leben mit einer Aufgabe belastet, die es ebenso wenig erfüllen, wie ablehnen kann: mit seiner eigenen für eine Zukunft anderer einzustehen. In der Kette der Genealogie wird das künftige Leben jedes Neugeborenen zum Ziel seines eigenen Ursprungs. Nachkommen sind die Zukunft für Vorfahren, die ihr eigenes Zukunftskontingent lebendiger Weltteilhabe erschöpft haben.
   Deshalb werden aus Kindern Eltern: zur Weitergabe der ungelösten Aufgabe, die zwar aus einer Hoffnung erwächst, die dennoch Schuld begründet, weil sie von denen, an die sie sich richtet, nicht erfüllt werden kann. Kein Enkel wird ‚es’ jemals ‚besser ausfechten’. Denn er wird seinen eigenen Kampf haben, und von dem derer, von denen er stammt, nichts mehr wissen, mag ein Großvater ihm noch so viel davon erzählt haben. Das Leben, in dem dessen Erzählungen spielen, ist ein anderes als das, zu dessen Ertüchtigung sie ausgesponnen werden.
   Für ein auf seine freie Selbstverfügung hin geführtes Leben besteht seine Aufgabe darin, sich von den Bedingungen der eigenen Existenz so weit zu distanzieren, daß sie zu Voraussetzungen eigener Existenz werden können. Sie steht am Ende eines Prozesses der Selbstverwandlung, wenn es gelingt, das eigene Leben als Verwirklichung der Möglichkeiten zu führen, die in seinen gegebenen Bedingungen geborgen liegen.
   Ein Selbstsein gibt es für das gezeugte Wesen nur in einem Jenseits zur genealogischen Zwangsverkettung. Es öffnet sich, wann immer die Geburt statt als Vorgang, in dem eine Zeugung im Bann der Fortbestandsabsicht des Menschseins an ihr Ziel gelangt, als Ereignis verstanden wird, das etwas Neues in die Welt bringt, das es noch nicht gegeben hat, und, einmal da gewesen, kein zweites Mal geben wird.
   Der Neubeginn, der mit jeder Geburt in die Welt kommt, kann sich in der Welt nur darum zur Geltung bringen, weil dem Neuankömmling die Fähigkeit zukommt, selbst einen neuen Anfang zu machen, d.h. zu handeln. Im Sinne von Initiative – ein initium setzen – steckt ein Element von Handeln in allen menschlichen Tätigkeiten, was nichts anderes besagt, als daß diese Tätigkeiten eben von Wesen geübt werden, die durch Geburt zur Welt gekommen sind und unter der Bedingung der Natalität stehen (Hannah Arendt) (2).
   Die Verschiebung in der Wahrnehmung der Geburt von der Kontinuität des Gattungslebens hin auf den ersten Augenblick einer unverwechselbaren und unwiederholbaren Einmaligkeit verwandelt die Elternschaft aus dem biologischen Ritual der Fortzeugung in den menschheitsgründenden Akt der Stiftung einer neuen Daseinsmöglichkeit.
   Unter der Voraussetzung allerdings, daß jedes Leben, das geboren wird, seine Aufgabe darin sehen wird, das in ihm angelegte Neue auch zu verwirklichen, statt fortzusetzen, woraus es entstand, das es in sich trägt, ob es will oder nicht. Das freie Menschsein liegt in einer Zukunft, die die Vergangenheit seiner Herkunft nicht noch einmal ist.
   Die wirkliche Kontinuität menschlichen Daseins liegt in diesem anderen Strom des immer wieder verwirklichten Neubeginns.
   Alle dieselben, und jedes ganz anders. Von dieser Regel der individuellen Einmaligkeit jedes Exemplars der Menschengattung konnte nicht einmal der zu ihrer Erlösung bestimmte Gott-Mensch ausgenommen werden. Er mußte in die Welt kommen wie ein Mensch, um deren ganze Last zu ihrer endgültigen Überwindung auf sich nehmen zu können, die mit seinem Tod zu erwirken ihm nur möglich sein konnte, nachdem er als Mensch gelebt hatte.
Mit jeder Geburt kehrt noch einmal wieder, was jemals war; jeder Geborene aber bringt etwas mit sich, das es noch nie gab.
   Daran mag man sich von der Geschichte vom göttlichen Menschenkind erinnern lassen. Wofür man kein Christ sein muß.
   Daß man in der Welt Vertrauen haben und daß man für die Welt hoffen darf, ist vielleicht nirgends knapper und schöner ausgedrückt als in den Worten, mit denen die Weihnachtsoratorien ‚die frohe Botschaft’ verkünden: „Uns ist ein Kind geboren.“ (Hannah Arendt) (3).
 
 
(1) Paul Valéry, Cahiers/Hefte, Bd. 6, Ffm 1993, 606
(2) Hannah Arendt, Vita activa oder Vom tätigen Leben, Stuttgart 1960, 15
(3) Hannah Arendt, Vita activa, a.a.O., 243


© Andreas Steffens - Erstveröffentlichung 2008 in den Musenblättern