Moderne Medizin und Zeitgenössische Kunst

Diagnose (Kunst) - Die Medizin im Spiegel der zeitgenössischen Kunst

von Johannes Vesper

Diagnose  [Kunst].
Die Medizin im Spiegel der zeitgenössischen Kunst



Die Medizin im Blick öffentlichen Interesses

Die moderne Medizin ist seit mehr als 100 Jahren von zunehmendem Interesse für uns alle und wird nicht nur wegen der erheblichen Kosten sondern vor allem auch wegen ihrer spektakulären Erfolge ständig diskutiert. In Funk und Fernsehen erfreuen sich medizinische Themen bis hin zu Arztserien großer Beliebtheit.  Natürlich ist die moderne Medizin auch ein Thema in der zeitgenössischen Kunst. Seit jeher sind die Beziehungen zwischen Medizin und Kunst vielfältig und lebendig. Bereits in der Antike wurden Hippokrates und auch medizinische Eingriffe dargestellt. Immerhin begann mit den anatomisch-bildlichen Darstellungen des menschlichen Körpers 1543 durch Andreas Vesalius die wissenschaftliche Medizin der Neuzeit. Auch heute bestehen bedeutende Erfolge der modernen Medizin vor allem  in der Erzeugung faszinierender Bilder vom Menschen und seiner Organe. Die bildgebenden Verfahren (Röntgen seit 1895, 1. CT-Aufnahme am Menschen 1971, MRT seit 1985 und Ultraschall seit den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts) sind geradezu ein Sinnbild der modernen Medizin.

Im Ausstellungsprojekt und dem vorliegenden Buch werden nun die Beziehungen zwischen zeitgenössischer Kunst und moderner Medizin umfangreich und sorgfältig dokumentiert. 
Zeitgenössische Kunst vollzieht sich nicht mehr nur in der Anschauung schöner Abbilder.
Kunst heute bildet Ideen ab und nicht mehr die Welt, wie sie sich uns darstellt.  Dabei löst sich das Kunstwerk vom reinen Bild und wird zum Film, zur Videoinstallation oder auch zur Aktion und zum Kunst-Objekt. Die so dargestellten Ideen erfordern eine rational-begrifflich-intellektuelle Interpretation dieser Kunst. Dabei wird Susan Sonntag allerdings wie folgt zitiert: “Wir müssen lernen mehr zu sehen. Es ist nicht unsere Aufgabe, ein Höchstmaß an Inhalt aus dem Werk heraus zu pressen, als darin enthalten ist“.

Etwas verwirrend sprechen die Herausgeber bei diesen zeitgenössischen Kunstwerken und Objekten von Artefakten, was zwar der genauen Übersetzung des Wortes „Kunstwerk“ entspricht aber doch überrascht.  .Denn der Begriff bezeichnet eigentlich in der naturwissenschaftlichen Medizin bei der Messung von Phänomen einen Fehler, der durch technische oder menschliche Einwirkung zustande kommt und nichts mit dem im Experiment zu beobachtenden Phänomen zu tun hat. Die Beobachtung von Artefakten ist in der Medizin wertlos, was ja bei der Verwendung des Begriffs in der modernen Kunst sicher nicht gemeint sein kann.
In Film, Videoinstallationen und Artefakten wird in dem hier vorgestellten Projekt also die moderne Medizin aufs Korn genommen, wobei die  zeitgenössischen Künstler durchaus unterschiedliche Akzente setzen.

Joseph Beuys verständlich gemacht

Von Josef Beuys findet sich in „Diagnose (Kunst)“ ein Objekt, welches einen EKG-Streifen, in einem aufgeschlagenen Buch (Titel des Buches:  „Voyage du jeune Anarcharsis en Grèce“) liegend, zeigt. Rechts daneben liegen auf einem braun bemaltem, zusammengefalteten Blatt der FAZ eine Rasierklinge, 2 vergoldete Lorbeerblätter, und ein heller, ausgerissener Zettel, auf dem der Künstler mit Bleistift seine Wünsche an die moderne Medizin geschrieben hat: „Notfalls leben wir auch ohne Herz“. Das wäre ja was! Vielleicht macht ja die Medizin auch diese Utopie eines Tages möglich. 1975 hatte Beuys einen Herzinfarkt erlitten (Auf dem dargestellten EKG finden sich die Zeichen eines Hinterwandinfarktes) und von einem Freund das dargestellte Buch mit in die Klinik gebracht bekommen. Jahre später gab er es ihm als das oben beschriebene „Artefakt“ zurück. Die Hauptfigur des Buches ist ein Skyte, der aus jener südrussischen Steppe stammt, wo Beuys während des 2. Weltkrieges abgeschossen wurde, sein Leben also schon einmal auf des (Rasier-)Messers Schneide gestanden hatte. Und von Hippokrates, dem Urvater aller Mediziner, stammt folgender Hinweis über die skytische Steppe.: „Hier also leben die Skythen, Nomaden nennt man sie, weil sie keine Häuser haben, sondern in Wagen leben. Diese Wagen sind vollständig mit Filz überzogen und wie Häuser konstruiert. In den Filzzelten sind die Frauen untergebracht, die Männer reiten auf Pferden“ (zitiert nach Beitrag Rolf Scherer). Von hierher wird deutlich, woher die Bedeutung des Filzes für J. Beuys stammt. Das „wilde Herz“ von Birgit Dieker (s.o.) sieht auch aus als wäre es von Filz, ist aber von Schafswolle.

Hirn und Kunst

Von David Webster stammt das Kunstobjekt aus Glas, Aluminiumguss und Öl auf Leinwand, welches einen gläsernen, auf einer Wandablage stehenden Kopf zeigt, aus dem sechs durchsichtige Schläuche etwas in Flaschen abzuleiten scheinen. Rechts liegt ein silbernes Gehirn. An der Wand darüber hängen ein dunkelblaues Ölgemälde  und eine Schautafel zur Hirnevolution nebeneinander. Das Objekt trägt den Titel „Gehirnablage“. Das Objekt scheint weit verbreitet zu sein und ist jedenfalls in Verbindung mit seinem Titel ein Faszinosum, was zu allerlei satirischen Überlegungen anregt... 
Via Lewandowsky bemüht sich als Künstlerin, das Hirn des Künstlers darzustellen, in dem sie uns einen Blick durch die aufgeklappte Schädeldecke gönnt. In der Medizin ist durch bildgebende Verfahren das krankhafte Innenleben des Patienten meist darstellbar. Dieser künstlerische Blick auf des Künstlers Hirn hingegen verrät nichts über sein Innenleben und überhaupt nichts über seine Kunst. Vielleicht besteht aber darin gerade die Aussage des Artefakts: Mit der Darstellung des Hirns im Bild kommen Künstler und Medizin weder der wahren Persönlichkeit des Künstlers noch der Patienten auf die Spur.
Bei Denmark wird in dem Bild „Art Criticism“ (Kunstkritik) die Beschäftigung mit Kunstkritik auf die Darstellung der dabei stoffwechselaktiven Hirnareale reduziert (links  3  Schnittbilder, einer CT-Darstellung nachempfunden, rechts 4 Gehirne, auf denen die stoffwechselaktiven Areale mit Rot eingezeichnet sind).
Wahrscheinlich hat aber Felix Droese recht, wenn er  auf seiner Röntgenbildkollage auch noch zum Teil in Spiegelschrift schreibt: „Alles falsch Felix Droese“

Fragen der Ethik

Endlich macht uns  Patricia Piccini mit ihren „Laborvorgängen“ und „Ethischen Fragen betroffen. Auf diesen Bildern sieht man erst ein Forscherpaar im Operationssaal, die ihr wissenschaftliches Kind, ein nacktes Monster, wahrscheinlich das Ergebnis einer Kreuzung zwischen Spanferkel und Lurch väterlich auf dem Arm halten. Dann fixieren beide das Untier auf dem Operationstisch und schauen sich ratlos an. Was auch immer sie mit dem Ergebnis ihrer Forschungen noch vorhaben, die ethischen Fragen scheinen zu spät gestellt zu werden. 

Die wie bei einer Demonstration bedrohlich aufmarschierenden Blutröhrchen  (Edith Micansky) und auch die 12 fotografischen Porträts menschlicher medizinischer Präparate (Annet von der Voort) wecken im nachdenklichen Betrachter der Artefakte keinen rechten Enthusiasmus für die zeitgenössische Medizin  
Über die in dem anregenden Buch vorzüglich abgebildeten 151 Kunstwerke verbreiten sich  Anna Lammers, Susanne Witzgall,  und Erich Franz  in ihren Beiträgen sachkundig und kurzweilig. Im Anhang finden sich eine Liste der ausgestellten Arbeiten, informative Kurzbiographien der 47 ausstellenden Künstler und ein hilfreiches Literaturverzeichnis. Sehr schön und mit Bild werden auch das Kunstmuseum Ahlen und das Museum im Kulturspeicher Würzburg  vorgestellt.
Das gebundene Ausstellungsbuch, editorisch sorgfältig parallel in Deutsch und Englisch herausgegeben von Burkhard Leismann und Ralf Scherer, ist von hoher Qualität.


Diagnose  [Kunst]. Die Medizin im Spiegel der zeitgenössischen Kunst
Beiträge von Ralf Scherer, Anna Lammers, Susanne Witzgall und Erich Franz
© 2007 Wienand Verlag Köln
220 Seiten mit 132 farbigen und 19 s/w Abbildungen
23,5 x 29,5 cm
Preis € 38,00 (SFr 68,00)
Texte in deutscher und englischer Sprache
ISBN 3-87909-902-2

Buch aus Anlaß der Ausstellung: Diagnose [Kunst] – Die Medizin im Spiegel zeitgenössischer Kunst  im Kunstmuseum
Ahlen (22.10.06-14.01.07 und im Kulturspeicher Würzburg (17.05.-22.07.2007)

Dr. Johannes Vesper, der Autor unserer Rezension, ist praktizierender Arzt.