Kratzer auf der Legende

Udo Lindenberg - "LEBENdIGITAL"

von Bernd Geisler

Kratzer auf der Legende


Ich geb’s ja zu, der Übergang war ein wenig heftig. Gerade habe ich mir seit langem wieder mal Ry Cooders „Why don't you try me“ in der fantastischen Version von Nine Below Zero angehört. Und danach sofort die „LINDENBERGTRACKS“ von LEBENdIGITAL in den CD-Player geschoben.
 
Der Schock konnte nicht größer sein.
 
Udo spricht „Baby, wenn ich down bin“. Das Original gehört, wie es der Zufall nun mal so will, zu meinen Lieblingsliedern von ihm. Weil es so authentisch nach Udo klingt: Leicht ironisch, schnodderig, traurig, fetzig, hin- und hergerissen zwischen Egoismus und Bedauern und doch so kompromißlos. „Wenn ich mal ins Schleudern komme, bist du da“, singt darin Udo. Und jeder, der schon mal ins Schleudern kommt, kann das saugute Gefühl nachempfinden, jemanden zu haben, der dann da ist.
 
Und jetzt, mein lieber Udo, sprichst du den Text zur Geräuschkulisse von LEBENdIGITAL! Na gut, warum nicht. Aber doch nicht so!!!!! Immer in der fast gleichen Modulation - nämlich ohne -, höchstens ein paar Pausen dazwischen, und das war’s schon. Von Authentizität kaum eine Spur.

Da komme ich ins Schleudern. Aber wie. Und jetzt ist niemand da - nicht Jochen Rausch, nicht Detlev Cremer, diese beiden LEBENdigen DIGITAListen, und auch nicht du, Udo -, der mich festhält. So schleudere ich denn weiter von Track zu Track und bleibe nirgendwo hängen. Trackmäßig, meine ich.
 
Udo! Bist du nicht der Großmeister der Panik und ihrer Bewältigung? Ich habe sie jetzt, die Panik.
 
Nicht, weil das Album schlecht gemacht ist. Im Gegenteil, hier waren Könner am Werk. Cremer und Rausch verstehen ihr Handwerk. Das weiß jeder, der sich intensiv mit ihrem Album „Fausertracks“ beschäftigt hat. Aber Jörg Fauser hat niemals gesungen. Er war ein Literat, und als solcher spricht man. Das ist für eine digitale Musikuntermalung allemal geeignet. Die Pausen kann man digital dazwischenjonglieren. Jetzt spricht Udo seine digitalen Pausen selber. Und nicht nur deswegen halten seine neu gesprochenen Worte einem Vergleich mit seinem früheren (Sprech-)Gesang nicht stand. Bis auf die ersten 35 Sekunden der „Sternenreise“. Aber danach höre ich die digitalen Englein singen, und das Ganze driftet rechtzeitig zur Weihnachtszeit ab in die Kommerz-Kitsch-Kiste.
 
Auch die Grooves der LINDENBERGTRACKS gefielen mir, wüßte ich nicht, daß Udo dazu spricht. Mit so einem instrumentalem Chillout-Gedudel - einen Mai Tai in der Hand - lasse ich mich gerne einlullen. „Bis ans Ende dieser Welt“ schrappt zwar haarscharf am Schlager vorbei, aber nach drei Mai Tai ist das auch egal.
 
Udo Lindenbergs „Kodderschnauze“ kommt LEBENdIGITAL (diese Schreibweise bringt mich noch mal um) nicht rüber. Warum? Mir fehlt der Rock ’n Roll dabei. Anscheinend bin ich durch jahrzehntelange Panik-Musik fürs digitale Remixe versaut worden. Und ich möchte auch jetzt am liebsten zum Schluß des digitalen „Nichts haut einen Seemann um“ bei der Zeile „und nun singt er sein Lied in den stürmischen Wind“ meine 72er Les Paul Custom schnappen, den Marshall-Verstärker anwerfen und dazwischenbrettern.
 
Wer weiß, vielleicht hätte mir das Album, hätte ich von Udo Lindenberg noch nie etwas gehört, richtig gut gefallen. Es mag manchem jungen Jünger des digitalen Zeitalters runter gehen wie goldig-flüssiger HTML-Code, durchsetzt mit raffiniertem JavaScript.
„Immer schön open sein“, wird Udo auf dem Album zitiert. „Und nur nicht die eigene Legende verwalten.“ Da hat er Recht.
 
Aber muß er dann gleich an seiner Legende digital herumkratzen?

Beispielbild


LEBENdIGITAL - LINDENBERGTRACKS
 
Udo Lindenberg  -  Stimme
Detlev Cremer  -  Gitarren, Bässe, Sounds
Jochen Rausch  -  Electronics
Gastmusiker
 
© 2008 Random House Audio
 
Titel:
1. Baby, wenn ich down bin   4:13
2. Mädchen aus Ostberlin   4:47
3. Meer der Träume   5:07
4. Ich lieb’ dich überhaupt nicht mehr   4:19
5. Stars die niemals untergehn   5:10
6. Nichts haut einen Seemann um   4:44
7. Niemandsland   6:03
8. Bis ans Ende dieser Welt   4:50
9. In den tiefen dunklen Gängen der Vergangenheit  4:45
10. Sternenreise   3:48

Gesamtzeit: 49:11
 
Album Fotos: Tine Acker, Thomas Hendrich
 
Weitere Informationen unter: