O Mensch, lerne tanzen!

Rika Schulze-Reuber - "Das Tanztheater Pina Bausch: Spiegel der Gesellschaft"

von Jürgen Kasten
Neue Blickwinkel

„O Mensch, lerne tanzen, sonst wissen die Engel im Himmel mit Dir nichts anzufangen!“
Das Augustinus-Zitat kennen wahrscheinlich alle, die sich lustvoll dem Tanzen hingeben oder auch nur passiv teilnehmen.
Doch so richtig passiv kann niemand bleiben, der sich mit dem Tanztheater der Pina Bausch beschäftigt. Rika Schulze-Reuber hat es ergründet:
 
Das vorliegende Buch erschien mit seiner Erstauflage bereits 2005 und wurde seinerzeit vielfach rezensiert. Warum jetzt noch einmal besprechen, es wurde doch schon alles gesagt, respektive geschrieben.
Die Antwort ist einfach:
Die Erstauflage bezog sich auf Produktionen des Tanztheaters bis zu dem Stück „Rohschnitt“ („Rough Cut“ – 2005). Die Neuauflage fügt Interpretationen neuerer Stücke ein, bis zum letztjährigen „Bamboo Blues“.
Das umfangreiche Werk der Wuppertaler Autorin Rika Schulze-Reuber ist überdies mit anderen „Pina Bausch-Büchern“ nicht vergleichbar und gerade deswegen interessant, nicht nur für hingebungsvolle Bausch-Fans.
Ohne Frage gehört die Autorin dazu, so enthusiastisch beschreibt sie das Wirken und die Wirkung, die Faszination des Tanztheaters.
Aber Rika Schulze-Reuber beschränkt sich nicht auf Lobeshymnen. Sie stellt sich der Frage „worin sind die eigentlichen Gründe für einen derartigen Aufstieg vom <Provinztheater> an die führenden Häuser der Welt zu suchen,…“ und nahm die Endphase eines Studiums der Sozialwissenschaften zum Anlaß, wissenschaftlich-soziologisch die Antwort zu ergründen.
Der Buchtitel „Das Tanztheater Pina Bausch – Spiegel der Gesellschaft“ ist daher keine Frage, sondern die Antwort.
 
Warum das so ist, erforscht die Autorin auf mehreren hundert Seiten. Dabei gelingt es ihr, einen weit umfassenden Bogen vom klassischen über den modernen Tanz bis hin zum Tanztheater zu schlagen, um letztenendes die konsequente Entwicklung des Tanztheaters der Pina Bausch und ihrer Protagonisten zu beschreiben, zu interpretieren und dadurch den Leser dahin zu führen, eigenes Erleben zu reflektieren (nicht nur, wenn er selber Fan ist, wie ich).
 
Rika Schulze-Reuber bezieht die gesamte Literatur um Pina Bausch in ihre Untersuchungen ein, zitiert vielfach Interviewpassagen und Kommentare anerkannter Bauschkritiker (insbesondere Jochen Schmidt und Norbert Servos).
Um „gesellschaftliche Strömungen“ der Bauschstücke zu belegen, greift die Autorin u.a. auch auf die Kommunikationsmodelle von Jürgen Habermas oder die soziologischen Modelle Anthony Giddens zurück.
Das „dürfte nur besonders Studenten oder akademisch interessierten Menschen zusagen“ las ich in einer anderen Rezension. Stimmt nicht. Die komplexe Herangehensweise an das Gesamtthema mit der Hinführung zum Phänomen Pina Bausch läßt nichts anderes zu.
 
In der Einleitung verweist Rika Schulze-Reuber darauf, daß alle bisherigen Autoren und Autorinnen in erster Linie die tänzerische und theatrale Leistung  der Choreographin und ihres Ensembles in den Fokus ihrer Betrachtungen stellten. Sie jedoch wolle das künstlerische Schaffen von Pina Bausch im Hinblick auf ihre Beobachtung der Gesellschaft einem soziologischen Aspekt unterwerfen.
Das gelingt ihr eindrucksvoll.
Doch zunächst führt sie uns im ersten Abschnitt des Buches vom klassischen Ballett zum modernen Tanztheater hin, um im zweiten Abschnitt das Phänomen Pina Bausch auszuleuchten.
Darin schildert sie auch den persönlichen Werdegang der Pina Bausch, die grundsätzliche Entstehung der Bausch-Stücke und die vielfachen künstlerischen Ausdrucksmittel, welche die Stücke so einzigartig machen.
 
Im dritten und längsten Abschnitt widmet sich die Autorin schließlich den einzelnen Stücken und unterscheidet dort noch einmal die frühe Schaffensperiode, in der Pina Bausch bekannte Werke in der ihr eigenen (eigenwilligen) Choreographie und Dramaturgie neu auf die Bühne brachte (z.B. „Frühlingsopfer“ und „Die sieben Todsünden“), um danach ihre eigene Kreationen ausführlich zu besprechen und zu interpretieren (Von „Café Müller“, entstanden 1975, bis zu “Bamboo Blues“ 2007).
 
Pina Bausch hat in Interviews öfter betont, sie interpretiere ihre eigenen Stücke nicht. Das obliegt den Betrachtern, die sich darüber im Klaren sein müssen, daß sie nicht nur Konsumenten sein können, sondern in die Stücke einbezogen werden (falls sie in den vorderen Reihen gebucht haben), daß sie aber vor allem emotional eingebunden werden, denn sie erleben die Stücke im wahrsten Sinne des Wortes.
Eben das ist die Intention der Verfasserin, denn Pina Bauschs Stücke sind tatsächlich Spiegelungen der Gesellschaft, deren Strömungen in all ihren Facetten erfaßt werden, insbesondere natürlich der immer wiederkehrende „Geschlechterkampf“.
Aber auch jeder einzelne kann sich erkennen, seine Handlungsweisen, seine Ängste, seine Wünsche und seine Träume, sofern er sich darauf einläßt.
Rika Schulze-Reuber sagt es so: „Der Schlüssel liegt beim Zuschauer selbst, dessen Alltagserfahrung befragt und thematisiert wird. Seine Gefolgschaft und Bereitschaft zum Nachvollziehen der Geschehnisse ist gefragt.“
 
All dies hat Rika Schulze-Reuber in dem Buch fein herausgearbeitet, dabei interessante Hintergrundinformationen zur Entstehung dieser Tanzform/Theaterform gegeben und durch ihre Interpretationen und Deutungsmöglichkeiten eigene Erfahrungen der Leser bestätigt oder andere Blickwinkel eröffnet.
Zugegebenerweise klingt einiges zu euphorisch; aber ich kann es ihr nicht verdenken. Die Subjektivität wird aufgehoben durch Pina Bausch selbst und Mitglieder der Tanzcompagnie, die sie zu Wort kommen läßt.
 
Der letztgenannte Abschnitt des Buches bietet auch einen Überblick des „Tanzfestival NRW 2007“, eine Zusammenfassung der gesellschaftlich relevanten Kernthemen der Bausch-Produktionen und letztlich die Darstellung der internationalen Wertschätzung des Schaffens von Pina Bausch bis hin zum renommierten Kyoto-Preis im Jahre 2007.
In „Resümee und Ausblick“ schließt Rika Schulze-Reuber mit dem Satz: „Ihr Tanztheater ist zu einem Medium zur Reflexion von Gesellschaft und Zeitgeist geworden“.
Dem ist zuzustimmen.
 
Erwähnenswert sind die Fußnoten, die von der Autorin eingesetzt werden. Durch sie wird der Lesefluß nicht gehemmt und man erfährt doch, welche Bedeutung dieser oder jener Fachausdruck hat oder wer der jeweils Zitierte ist.
Es fehlt auch nicht eine Auflistung des Gesamtwerkes der Choreographin Pina Bausch (Anhang A) und schließlich im Literaturverzeichnis der genaue Hinweis auf alle benutzten Quellen, interessant für alle, die sich weitergehend mit dem Thema beschäftigen wollen.

Unbedingt ehervorzuheben sind die 65 schwarzweiß-Fotografien. 60 stammen von Jochen Viehoff, der damit die Stimmungen der besprochenen Stücke ausdrucksstark  wiedergibt (Anhang B).
Von ihm stammen auch das Umschlagfoto, die Rückseite und die Gestaltung des Covers.
24,80 € sind für dieses Buch gut angelegt, denn es lohnt sich nicht nur für Bausch-Fans.

Wer detaillierte bibliografische Daten zu dieser Publikation  sucht, findet sie im Internet über http://dnb.ddb.de
Beispielbild
Foto: Jochen Viehoff


Rika Schulze-Reuber
Das Tanztheater Pina Bausch: Spiegel der Gesellschaft.

Mit Fotografien von Jochen Viehoff.

© 2008 R. G. Fischer Verlag, Frankfurt a.M. 2008.

Zweite überarbeitete Auflage
ISBN 978-3-8301-1147-4
Paperback, 248 Seiten, 65 Schwarzweiß-Fotos
24,80 Euro (D), 42,60 SFr

Weitere Informationen unter:
edition-fischer.com