Die sprechenden Mühlsteine

von Karl Otto Mühl

Karl Otto Mühl
Foto © Frank Becker
Die sprechenden Mühlsteine
 
Die Mühle lag in einem tiefen, grünen Tal im Schwarzwald, ein lehmfarbener Weg schlängelte sich an ihr vorbei, ringsum wucherte dichtes Grün.
Der Müller hatte lange nicht gemerkt, daß seine Mühlsteine miteinander redeten. Er nahm es erst an einem heißen Sommertag wahr, als er für eine kleine Weile auf der Bank vor seiner Mühle saß und fast an nichts dachte. Da fiel ihm das Murmeln und Knirschen der beiden auf, und er verstand, was sie redeten. Sie waren sehr unzufrieden, daß sie den ganzen Tag nichts als Körner zerquetschen mußten. Ganz zu schweigen von dem widerlichen kleinen Geröll, den Holzstückchen und den häßlichen Käfern, die manchmal in das Getreide gerieten.
Wie schön ruhig, harmonisch und geräuschlos könnte das Leben ablaufen, sagte der eine, wenn wir uns ganz ruhig für uns drehen könnten.
Sieh dir nur den Müller an, sagte der andere, der tut so gut wie nichts. Das möchte ich auch.
In diesem Augenblick fiel dem Müller eine Schindel vom Dach auf den Kopf, er sank auf die Bank und wachte für lange Zeit nicht mehr auf. Kein Getreide glitt mehr durch den Schacht, fast geräuschlos mahlten die mächtigen Steine.
Die Zeit schien immer langsamer zu vergehen, und das will etwas heißen, denn so ein Mühlstein lebt viele Millionen Jahre. Das Tal wurde langsam von Sand überschwemmt, es wurde fahl und braun und grau. Der Mühlbach rann immer dünner und leiser, bis er ganz ausgetrocknet war, und nun standen auch die Steine still. Der Müller lag unbeweglich auf der Bank.
Ein Mönch ging vorbei, von dem der Müller einmal gehört hatte, daß er aus Heisterbach stammte. Er nickte betrübt und ging weiter.
Weil nun die Steine still standen und die Bäche versiegten, geht auch diese Geschichte nicht weiter.
Nach 10 Millionen Jahren sagte einer der Steine: Ein bißchen Getreide hätte er schon reinschütten können.


© Karl Otto Mühl - Erstveröffentlichung in den Musenblättern 2008