Im Wortlaut

Thesen zum gegenwärtigen Journalismus

von Prof. Dr. Volker Ronge

Prof. Dr. Volker Ronge
Foto © Bergische Universität/
Petra Zöllner

Thesen zum gegenwärtigen Journalismus

Auszug aus dem Festvortrag von Prof. Dr. Volker Ronge, Rektor der Bergischen Universität Wuppertal, beim Festakt  "50 Jahre Wermelskirchener General Anzeiger" am 5. März 2007
Die Wiedergabe erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Autors.


1.  Im gegenwärtigen Journalismus mangelt es in weiten Teilen (mit wenigen Ausnahmen bei wenigen, eher den überregionalen, Tages- und manchen Wochenzeitungen) an Recherche. An deren Stelle, die natürlich Arbeit macht und Zeit kostet (und hier liegt ein Verursachungsfaktor, aber nicht der einzige), tritt verbreitet die unmittelbare Wiedergabe von Statements von Interviewpartnern („O-Ton“ heißt das in den elektronischen Medien). Auf diese Weise bekommen Zitate eine Über-Gebühr-Bedeutung. (Das ließe sich x-fach zeigen. Ich muß ziemlich viele Interviews geben – und sehe die Resultate.)

2.  Zitate an Stelle von Analyse: Der O-Ton unterminiert die Analyse, er kommt ungefiltert, „unbedacht“, in die Zeitung. Da wird z.B. (auf S. 1 und 5 der WZ v. 23.2.07) über irgendeine Untersuchung berichtet, die das Ausmaß von direkter Demokratie ländervergleichend mit Zensuren belegt („ausreichend“) und rankt. Merkt der Journalist eigentlich nicht, welchen Unfug er da verbreitet? Lassen sich denn derart qualitative Demokratietypen in einer transitiven Skala bewerten und ranken? So viel Zeit, um das zu erkennen, muß - dem Zeitungsredakteur - eigentlich sein!

3.  Im gegenwärtigen politischen Journalismus gehen zwei Dinge eine unheilige Allianz ein: die O-Ton-Manier, die sich natürlich auch aus ihrer Kostenvorteilhaftigkeit (wenig Arbeitsaufwand, wenig Personal, keine Zeit) speist, und eine wohl nur psychologisch deutbare Dramatisierungs“lust“. Sobald man irgendwo in der Politik einen noch so kleinen Widerspruch, Konflikt, Meinungsunterschied findet, hat das für die Journalisten Nachrichten- und Berichtswert – auch wenn es noch so marginal ist und obwohl solches im Politikgeschäft natürlich höchst normal ist. Diese „forensische“ Ausrichtung, ja Professions-Ideologie, tritt weitgehend an die Stelle von Analyse, die natürlich den Journalisten erheblich mehr „fordert“: zeitlich wie intellektuell. Oder anders gesagt: Wie relevant eine „Abweichung“ ist – diese Frage bleibt unbeantwortet, wenn/weil man die Abweichung als solche einfach für relevant nimmt, was sie natürlich oft genug überhaupt nicht ist.

4.  Es gibt in Politik und Gesellschaft natürlich auch „große“ und relevante Abweichungen. Wenn Journalisten diese aber, sozusagen ungehemmt und unreflektiert, geradezu suchen – dann agieren sie allzu leicht (offenbar mit Lust) als Provokateure ohne Rücksicht auf die Effekte und Konsequenzen. Beispiel: Aus mehreren hundert Wagen im Rosenmontagsumzug von Köln und Düsseldorf wurde in der Berichterstattung (von einer dieser Region nicht ganz fernen Zeitung: WZ v. 20.02.07, S. 1) ausgerechnet und wohl provokations-strategisch derjenige herausgestellt (d.h. selegiert!), der sich thematisch auf islamistischen Terrorismus, ein ziemlich sensibles, heikles politischesThema, bezog. Man konnte und musste doch wissen, dass – nicht die Sache, die Existenz dieses Wagens, sondern – die selektive Hervorhebung seines Vorkommens durch das Medium - realitätserzeugend, nicht bloß –wiedergebend (!) - Probleme aufwerfen würde, die man besser nicht riskiert. Ein bisschen Zauberlehrlings-Prozedere, mit klammheimlicher Freude am erwartbar erzeugten Schaden. Aufsehen um jeden (!) Preis. - Haben, fühlen Journalisten wirklich keine Verantwortung für das, was sie selegieren, für ihre Selektion?? Es geht ja keineswegs darum, zu vermelden, was es gibt; es geht darum, was der Journalist von dem, was es alles gibt, zur Meldung macht, selegiert! Die Medien-Macht zur Realitätserzeugung schreit, finde ich, nach - mehr - Verantwortung!

5.  Journalisten haben heute kein „Gedächtnis“ mehr und fungieren deshalb auch nicht mehr für ihr Publikum als solches. Das ist umso schlimmer, als ja auch in der Politik gilt: „Was schert mich mein Geschwätz von gestern.“ (siehe Wahlversprechungen) Auf diese Weise regieren in der öffentlichen Kommunikation und Meinung Informationen – zu Lasten von Wissen, das man richtigerweise darin zu sehen hat, die Kontextuierung von Informationen herzustellen – und nicht zuletzt die historische Kontextuierung. (Anmerkung: Hier ist sogar die öffentliche Verwaltung besser, indem sie immerhin Akten führt, d.h. Geschichte zur Verwendung aufgewahrt.)

6.  Im gegenwärtigen Zeitungs-Journalismus wird thematisch allzu sehr auf „human interest“ gesetzt. Ich nehme ein ungewöhnliches, aber umso treffenderes Beleg-Beispiel – einmal keines aus der Politik (wo die Unterscheidung zwischen Politik und Unterhaltung ja längst ins Schwimmen geraten ist - siehe etwa Sabine Christiansens sonntägliche Talkshow - und deshalb strittig sein kann). Im Sportteil – das ist ein Bereich, der sehr themenspeziell und dabei sehr rezipientendefiniert ist – finde ich an prominentem Platz einen Artikel, in dem tatsächlich nichts anderes (!) berichtet wird, als dass die Eisschnellläuferin Anni Friesinger für den Rocksänger Jim Morrison schwärmt (WZ v. 20.01.07). Was glaubt man eigentlich in der Sport-Redaktion, welcher Sportteil-Leser sich dafür interessiert?! Aber die Sportredaktion ist sich natürlich ganz sicher, dass ... (Überhaupt neigen Journalisten dazu, sich sehr sicher zu sein.) Und wenn man schon ein ganzes „Buch“ in der Zeitung für „Leben“ einführt (wie kürzlich die neue WZ), dann könnte das doch den Lokalteil, und erst recht den Sportteil, von „human interest“-Artikeln entlasten. Tut es aber nicht!

7.  Im gegenwärtigen Journalismus versucht man, seinem Publikum, das man im übrigen (in beeindruckender Selbstüberschätzung!) genau zu kennen glaubt,  möglichst zu entsprechen, sich ihm anzupassen – statt dieses Publikum auch zu fordern, zu fördern, zu bilden. „Wir schreiben nicht für Akademiker“, heißt es z.B. unter Lokalredakteuren häufig – übrigens unter Ignorierung des Umstands der allgemeinen Bildungs-„drift“ in Richtung von Abitur und Studium (neueste Daten für NRW, 2006: 53,4 % der Schulabgänger haben Abitur, Fachabitur oder Fachhochschulreife).

8.  Der seit einigen Jahren von den lokalen Medien betriebene „dialogische Journalismus“ befördert nur scheinbar diskursive two-channel-Kommunikation, sondern dient der Blatt-Leser-Bindung und tut dies auf niedrigstem Aussagen- und Kommunikationsniveau. Ein besonders beredtes Beispiel dafür, insbesondere hinsichtlich der Antwortvorgaben, sind die immer häufiger an die Leser gerichteten Befragungen zu aktuellen Lokalthemen. Hier halten sich die Redakteure selbst offensichtlich für professionelle Umfragespezialisten – sehr zu Unrecht, möchte ich ihnen vorhalten.

9.  Im gegenwärtigen Lokal-Journalismus herrscht fast durchgängig ein falsches Verständnis von „lokal“ – nämlich eines, das nur konkret ist, sich auf die je konkrete Kommune konzentriert und beschränkt, in welcher die Zeitung erscheint. Woran es fehlt, ist eine Abstraktion vom speziellen Lokalen (von der jeweiligen Kommune) auf das allgemein Lokale – die es erst ermöglichen würde, ein bestimmtes Lokales mit anderem Lokalen zu vergleichen und aus solchem Vergleich zu lernen und zu profitieren. Dabei böte der systematisch betriebene abstrahierende Vergleich der eigenen Kommune mit dem, was in anderen (vergleichbaren) Kommunen geschieht, den lokalen Medien eine hervorragende Möglichkeit, die je eigene Kommunalpolitik zu evaluieren, sie (konstruktiv) zu kritisieren, ja sogar zu „benchmarken“ – gemäß einem modernen Lieblingsspiel, nicht nur in der Betriebswirtschaft. Wermelskirchen hat sicherlich nicht dieselben Probleme wie Staufen oder Gröbenzell (wo liegen die überhaupt?), aber vielleicht die gleichen! (Die deutsche Sprache bietet diese sinnreiche Unterscheidung.) Die verbreitet bestehenden kommunalen Partnerschaften mit ausländischen Kommunen böten z.B. für Abstraktion und Vergleich hervorragende Möglichkeiten, weil sie nicht nur abstrakt wären, sondern zugleich eine affektive Ressource, eben die Städte-„Partnerschaft“, beinhalten und mobilisieren können. In die richtige Richtung weisen übrigens regelmäßige Berichte über angrenzende Kommunen, die (nur) nicht zum Verbreitungsgebiet der jeweiligen Zeitung zählen.


Prof. Dr. Volker Ronge

Der gebürtige Schlesier, der Kindheit und Schulzeit in Oldenburg verbrachte, studierte nach Abitur und Bundeswehr an der Freien Universität Berlin Politische Wissenschaft und Rechtswissenschaft. Er promovierte 1972 an der Universität Bremen und ging dann als Wissenschaftlicher Mitarbeiter ans Max-Planck-Institut zur Erforschung der Lebensbedingungen der wissenschaftlich-technischen Welt (Professoren Carl-Friedrich von Weizsäcker und Jürgen Habermas) nach Starnberg. 1976 erfolgte die Habilitation für Politikwissenschaft an der FU, 1979 wurde Ronge Geschäftsführer des Münchener Meinungsforschungsinstituts Infratest. 1982 wurde Ronge als Professor für Allgemeine Soziologie mit dem Schwerpunkt "Makro-strukturelle Analyse der Gesellschaft" an die Bergische Universität berufen. Von 1991 bis 1999 bereits gehörte Volker Ronge dem Rektorat als Prorektor für Planung und Finanzen an, bevor er 1999 das Amt des Rektors übernahm. (Quelle: Pressestelle der Bergischen Universität Wuppertal)