Abfahrt

Erzählung

von Andreas Steffens

Andreas Steffens
Foto © Zbigniew Pluszynski

Abfahrt


Aufgedreht vom angespannten Kilometerfressen, unterbrochen nur von einem kurzen Halt zum Tanken, den er nicht unterlassen konnte, fuhr er zu schnell von der Autobahn ab, in der engen Kurve mußte er stark abbremsen, was er einen Moment zu spät bemerkte, so daß es heftiger ausfiel als erforderlich. Wie aus einem Tagtraum zurückkehrend, wurde er sich mit einem Ruck, den ein kurzes Aufschrecken begleitete, der Situation bewußt. Er spürte, daß es ihm nicht leichtfallen würde, aus der Automatik der langen eintönigen Autobahnfahrt zu konzentrierter Aufmerksamkeit zurückzufinden und sie aufrechtzuerhalten, bis er sein Ziel erreicht haben würde, die die letzte Etappe über Land erforderte.


Das Vorwärtsdrängen der schnellen Fahrt hatte seit langem unbemerkt von seinem Körper Besitz ergriffen. Er wollte sein Ziel schnell erreichen. Er wollte an dem Ort sein, auf den er sich zubewegte, der ihm schon einmal zur beruhigenden Zuflucht geworden war. Auf das Reisen kam es ihm nicht an. Es störte ihn, daß er den Raum durchmessen mußte, um dort sein zu können, obwohl er gerne Auto fuhr und längere Fahrten ihn auch nicht mehr so erschöpften wie in den ersten Jahren seiner Autoreisen. Dennoch war es für ihn eine lästige, zeitraubende Anstrengung. Er hatte nie gut reisen können. Die Wege interessierten ihn wenig, ihm ging es ums Ankommen. Ohne ein vorgegebenes Ziel einfach aufzubrechen, und sich an einen Ort treiben zu lassen, der ihn anziehen und zum Bleiben einladen würde, wäre ihm nicht eingefallen. So fügte er sich in die Unvermeidlichkeit des jeweils hinter sich zu bringenden Transits. Er ließ sich von seinem Ziel ziehen. Den Ort, woher er kam, gerne zu verlassen, gab ihm dabei zusätzlichen Antrieb.

Der Situation wieder ganz mächtig, gelang es ihm, den Wagen auf den breiten Platz der Péage auslaufen und vor dem Kassiererhäuschen langsam stoppen zu lassen, wobei er zum ersten Mal das tief aufheiternde Empfinden des Ankommens in sich aufsteigen fühlte, als wäre er bereits auf den Hof des Manoirs gefahren, dem er zustrebte, obwohl er noch eine gute Strecke vor sich hatte.

Als er den Kopf hob und, wie erleichtert, durchatmend zu der Person, die ihm ihren linken Arm aus dem Fenster ihres Häuschens herunterstreckte, aufschaute, und ihr mit seinem fröhlichsten ‘Bonsoir’ sein Ticket in die Hand gab, war ihm, als durchführe ihn ein leichter Stromschlag, wie man ihn zu spüren bekommt, wenn man einem der Elektrozäune zu nahe gerät, die man hier und da noch eine Weide begrenzen finden kann.

Es tat so gut, sich auf der Chaiselongue auszustrecken, deren freundlich-lässiger Einladung, die ihre fein geschwungenen Seiten ausstrahlten, er nicht widerstehen konnte, die so lange verspannten Muskeln anzuspannen und ruckartig zu lockern. Erinnerungsfetzen der Fahrt zogen über das Innere seiner zuckenden Augenlider wie eine surrealistische Filmsequenz, erleuchtet von plötzlich grell aufsprühenden Farben. Rot Gelborange...Häuserketten...häßliche Gewerbegebäude...Manoirs wie ferne Märchenschlösser auf einem verwunschenen Hügel...all die Wohnwagen, halb Holland schien in den Süden aufgebrochen zu sein...schwankende Laster...drängelnde Wagen mit verbissen vor sich hin starrenden Fahrern, die an ihm vorbeizogen...auf den Hügelkämmen der Berg- und Talfahrt der route nationale aufblitzende Scheinwerfer entgegenkommender Autos...und da waren ja auch die Schwalben, kreischend in der Dämmerung auf ihre Beute herabstoßend...noch etwas mehr Wasser hätte er trinken sollen...es war die gleiche rote Decke, auf der er lag, die dem Canapée, das breit genug für zwei ist...wie in einem Salon...Biedermeier...sich jetzt zu ihr umwenden...über ihren Körper streichen...die Türe bewegte sich ein wenig...Durchzug...aber sonst doch nichts geöffnet...wie sanft die Härchen auf ihrem Arm...kaum auf seiner Brust zu spüren...er war doch allein...wie gut es tut, wiederzukommen und alles an seinem Platz wiederzuerkennen...so lange wie einige Tage...welche Mühe sie sich gab, ihn nicht zu stören...nur ihren Schatten sah er auf dem Bildschirm seines linken Augenlides vorüberhuschen...daß er die Autotüren gar nicht hörte...ob der Koffer nicht zu schwer war...wie vertraut das Klicken des Schlosses der Eingangstür beim Einrasten...als erstes die Vorräte in den Kühlschrank...Rücksicht ist doch das wichtigste zwischen zwei Menschen...war das ein Topf...sie sah sich wohl um, wie die Küche ausgestattet war...er würde ihr zeigen...zu viele Pfannen...erst noch ein wenig, nicht lange...nur Ruhe, du bist doch da...nun mußte sie sich oben umschauen...die Treppe knarrte gar nicht...den alten Esel hatten sie gar nicht...ob er noch lebte...und die Pferde...nun steht sie im Türrahmen und sieht mich an...setzt du dich zu mir, das ist schön, warte, ich rücke etwas zur Seite, dann kannst du dich auch...ruh’ doch auch...erst...wie gut es tat, da zu sein...nichts vornehmen...einfach da sein...zu Hause...das ist es...Stille...wie laut das Auto, es muß gerade über die Brücke fahren...der Fluß...ich muß ihr noch unser Zimmer zeigen, aber sie wird schon das richtige wählen...alles wird sie immer richtig machen...genug Brot?...bestimmt pappig...egal...morgen...wie sanft sie ihre Lippen auf meine Stirn drückt...eigentlich haben wir auf der Fahrt gar nicht gesprochen...wie ist sie nur hergekommen... ...Ich muß doch für einen Moment eingeschlafen sein...es ist dunkel geworden... ... Welche Augen sie hat!

Noch glücklich lächelnd ... , sah er ins Leere. Vom Kirchturm schallten drei Schläge herüber. Er hatte leichte Kopfschmerzen.

Durch und Durch war ihm der Blick dieser Augen gegangen, deren melancholisch leidenschaftliche Sinnlichkeit von einem Lächeln unwirklich natürlicher Freundlichkeit so sehr überstrahlt wurde, daß ihn eine verwundende Sehnsucht durchzog, von der er sofort wußte, daß sie ihn auf dieser Reise untrennbar begleiten würde.

Mon dieu, comme vous êtes belle!

Er fürchtete, daß der Moment, den er sie wie betäubt anstarrte, zu lang war, um das ungesagt vor sich nur Hingedachte unbemerkt bleiben zu lassen. Erschüttert suchte er seiner Verwirrung Herr zu werden, indem er, angestrengt auf das Lenkrad starrend, es vermied, zu ihr zu schauen, während sie mit raschen Gesten routiniert die Zahlung tätigte. Ein leichtes Zittern nahm er als Zeichen, daß die lange Fahrt ihn mehr erschöpft haben mußte, als er meinte.

Genau so mußte es sein, anzukommen, so angeschaut zu werden.

Mit Herzklopfen hatte er sie mit halbem Blick angesehen, als sie ihm Kreditkarte und Quittung wieder herunterreichte. Mit selbstbefremdend brüchiger Stimme hörte er sich sein ‘Au revoir’ hervorbringen, das er selten mit einem so verzehrenden Wunsch nach Verwirklichung ausgesprochen hatte.

Mechanisch tat er, was getan sein mußte, um weiterzufahren. Bleiben hätte er wollen, und konnte nicht schnell genug weg kommen. Auf die route nationale einbiegend, wußte er, daß er dabei war, ein Glück hinter sich zu lassen, eine jener Möglichkeiten, die nicht genutzt zu haben man sich nie verzeiht, gerade weil es nicht möglich war, sie zu nutzen.

Umkehren mußt du!, hielt die Vernunft ihm vor, die seine Unfähigkeit, zu reagieren, beleidigt hatte, während sein Verstand ihn an den wieder vorwärtstreibenden Weg fesselte, der noch vor ihm lag, den er nun zurücklegte, als wäre er auf der Flucht vor jenem Verwandlungsschlag, dessen Möglichkeit ihn ein Augenblick hatte durchzucken lassen. Als ein Versehrter fühlte er sich vor sich hin fahren, nach Worten suchend, die er halblaut erprobte und wieder verwarf, die er ihr hätte sagen sollen, einem vom Sonnenuntergang orangerot illuminierten Horizont entgegen, unter dem nun nicht mehr die reine Leichtigkeit der Zuflucht auf ihn wartete, sondern auch der Schmerz einer Erinnerung.

Wiederholt fuhr er immer langsamer, ohne es recht zu bemerken, als hätte sein Ziel mit einem Mal seine bewährte Anziehungskraft verloren. Ein Blick, und dein Leben ist verwandelt, ohne daß sich irgendetwas änderte. Was nur fehlte dazu? Ihn in kurzen Abständen überholende Wagen mußten ihn an sein Ziel erinnern.

Er stand mit einiger Mühe und einem leichten Anflug von Schwindelgefühl auf, um sein Gepäck ins Haus zu bringen, dessen freundliche Leere mit den vertrauten Dingen seiner Anwesenheit zu erfüllen.

Beim Öffnen der Beifahrertüre fiel ihm seine Straßenkarte entgegen. Er besah sich noch einmal die Route, die er hergekommen war. Dort war es gewesen; hatte sich ereignet, was nicht geschah.

Den Rückweg würde er vielleicht doch über Mâcon nehmen, auch wenn es eine etwas längere Strecke war.


© Andreas Steffens - Erstveröffentlichung in den Musenblättern 2007