Leidenschaft im Strudel der Zeit

von Eugen Egner

Chopin auf der Hawaii-Gitarre © Eugen Egner

Leidenschaft im Strudel der Zeit

 

Die diesjährige Äquinoktialnacht gedenken wir mit Hexen­künsten und Geplapper zuzubringen: Frau Hilversum, Freund Trutzhahn und ich. In Trutzhahns Arbeitszimmer warten wir drei auf übersinnliche Vorkommnisse. Mein alter Freund und seine neue Geliebte haben erst kürzlich über eine Bekanntschafts-Annonce zueinander gefunden. Aus diesem Grunde beschäftigen sie sich weniger mit mir, der ich im schwachen Schein der Leselampe angestrengt versuche, Gespenster zu sehen. Ab und zu ertappe ich mich beim Einnicken. Wenn ich mich richtig erinnere, hat Frau Hilversum vorübergehend unbekleidet am Ton­bandgerät gestanden. Ich kann mich aber auch täuschen, genausogut kann ich selbst vorübergehend unbekleidet am Tonbandgerät gestanden haben.
  Punkt drei Uhr ist Schluß. Weil ich nicht weiß, wie ich heimkommen soll, fährt mich meines Freundes Geliebte nach Hause. Trutzhahn baut indessen erwartungsvoll das Klappbett auf. Unterwegs erzähle ich Frau Hilversum von einer in meinem Besitz befindlichen Schellackplatte, auf der Chopins sogenannte Tristesse-Etüde in der Aus­führung für Hawaiigitarre zu hören ist. Diese Platte will Frau Hilversum hören und kommt ungerührt mit her­ein. Beim wiederholten Anhören der Tristesse läuft sie zu mir über. Dummerweise schreit sie furchtbar laut, als sie sich mir hingibt. Mir ist das - zumal zu dieser Stunde ­sehr peinlich, denn meine Vermieter wohnen direkt unter uns. Am Vormittag rufen wir vom Bett aus Trutzhahn an und unterrichten ihn kichernd. Bestimmt hat er dauernd versucht, uns zu erreichen, aber wir hatten den Hörer abgenommen. Er reagiert völlig humorlos, und tags darauf bekommen wir unsere Photos per Post in un­frankierten Couverts zurück.
   Wofür habe ich jedoch meine alte Freundschaft geop­fert! Es geht nicht gut mit Frau Hilversum. Sonntags sind wir bei ihr, dann läuft sie den lieben langen Tag nackt in der Wohnung herum und verlangt von mir, es ihr gleich­zutun. Baden soll ich mit ihr, seit dem Kindergarten bin ich nicht mehr so geschurigelt worden. Anläßlich unse­rer nicht zwanglosen intimen Zusammenkünfte fragt sie mich permanent, ob ich keine besonderen Wünsche hätte. Ich verneine und geniere mich zunehmend vor ihr. Bald meide ich sie. Ganz aus ist es, als bei meinem letzten Be­such ein vollbärtiger, dicker Mensch auftaucht und un­gebeten aus seiner Aktentasche große Colorphotos her­vorzieht, auf denen Frau Hilversum (durch Perücke unkenntlich gemacht) umständlich klistiert wird. Ich fliehe in die Nacht und laufe kilometerweit zu Fuß nach Hause, wo ich noch lange hinter der Gardine verborgen auf die Straße hinausstarre.


© Eugen Egner