Theater in Afrika

Ein Fragment des in Kürze erscheinenden Romans "Die alten Soldaten"

von Karl Otto Mühl

Foto © Frank Becker
Theater in Südafrika
(Ein Fragment)


Er dachte an diese Begegnung mit dem Theaterspielen zurück. Das war in diesem letzten Camp in Südafrika:

Die Farben der Landschaft sind kräftiger, saftiger als daheim in der Oberpfalz; sie sind wie aus einem Bildband, die sanften grünen Hügel menschenfreundlich wie aus einem Bilderbuch für Kinder. Dann der Einmarsch in ein neues Zeltlager an einem großflächigen Hang. Ein riesiges Lager, unterteilt durch hohe Zäune. Im Nebenlager sind  einige Tausend Italiener untergebracht, gefangen genommen in Libyen, Eritrea oder Abessinien.
Wieder waren sie in einem riesigen Zeltlager; Hunderte von Zelten. Der Speisesaal war einfach ein überdachter Platz mit rohgezimmerten Tischen und Bänken darunter.
Gleich bei der Ankunft fielen Dutzende von Italienern aus dem Nebenlager über sie her und schoren allen die Köpfe kahl.

Einige und auch Caspers bekamen Sonderrationen von Erdnußbutter. Caspers half nämlich bei der Herstellung einer Freilichtbühne - alles erlaubt von den Engländern - richtiger, Südafrikanern. Beim Herankarren von Erdreich wurde er vom Leiter der frischgegründeten Theaterkompanie gefragt, ob er in einem Stück „Die Hosen des Rosinenhändlers“ den zweiten Rosinenhändler spielen wolle. Seinen Text müsse er sich allerdings selbst ausdenken, denn der Autor, ein Max Pöhlein, habe nur das Exposé aufgeschrieben.

Caspers kannte den Autor des Exposés bereits. Oder anders: Er kannte ihn, ohne etwas über ihn zu wissen. Ein Künstler eben. Der Mann saß vom Morgen bis zum Abend an einem der langen, grauen Brettertische unter dem großen Dach und kritzelte. Jetzt erst erfuhr Caspers, was er tat. Er schrieb Theaterstücke. Was mit diesem Manne war, schien für Caspers klar zu sein. Er war einer der Fürsten in der Welt des Geistes, und so ein Fürst blieb man immer und ewig, wenn man es einmal war. Caspers fühlte fast, wie dieser hier durch diese Zeit der Gefangenschaft hindurchglitt. Texte kannte man nicht von ihm, nur diese Exposés eben, die sich an Stücke anlehnten, die er im Theater gesehen hatte. Zum Schreiben der Dialoge blieb keine Zeit. Caspers hätte auch gerne solche Theaterstücke geschrieben. Wie mußte man dann sein? Sah man es jemand an? Dieser Autor sah unauffällig aus.
Einmal, beim Mittagsessen aus den Aluminiumnäpfen an den langen Brettertischen, setzte sich der Autor neben Caspers: „Ich habe gehört, du bist aus Tirschenreuth? Dann sind wir fast Nachbarn. Ich komme aus Weiden.“
Dieses Gespräch war fast wie ein kleiner Heimaturlaub. Welch ein Wunder! Er kannte diese Stadt,  das Wiesenttal, das Sägewerk, in dem sein Vater in den ersten Nachkriegsjahren gearbeitet  hatte, Tirschenreuth. Es klang wie Musik: „Sobald wir zurück sind, treffen wir uns! In der Bahnhofswirtschaft, da trinken wir einen.“ Oh, süßer Tag der Heimkehr!

Pöhleins Gesicht war das eines Jungen, fast mädchenhafte Züge, eine weiche Stimme. Ob  sie Freunde werden könnten? Konnte er von ihm lernen? Pöhlein hatte auch einige kurze Erzählungen geschrieben, wie er sagte. Aber später würde er so schreiben wie Tolstoj. Oder wenigstens so ähnlich, sagte er. Caspers studierte ihn aufmerksam:  War Pöhlein, waren seinesgleichen, anders? Caspers bildete sich ein, daß Pöhlein wacher und wachsamer war. Er wirkte aber weder überlegen noch arrogant, und doch fiel er auf und war nicht zu übersehen. Caspers konnte sein Geheimnis nicht entschlüsseln. Zuhause hätten ihn am meisten die  Mädchen interessiert, sagte Pöhlein mit scheuem Lächeln. Heiraten wollte er aber auf keinen Fall. Man mußte frei sein.
Pöhlein erzählte, daß der Vater eine Draht-Fabrik hatte. Mit ihm und der Mutter war er einmal in Italien gewesen, sie hatten ein Kindermädchen. Der Bruder war gehbehindert, er war jetzt daheim und studierte Physik.
Die Welt des Reichtums. Bis hierher reichte ihr Machtbereich nicht, und doch, jeder hier, der von Pöhlein wußte, der wußte auch: Er ist reich. Der Reichtum wartete irgendwo vor dem Lagertor.

Wenn der Autor Pöhlein an dem Brettertisch, an dem er viele Stunden des Tages saß, ein Konzept für ein Stück beendet hatte, wurde die Theaterkompanie zusammengerufen. Man hockte auf Ziegelsteinen vor der Erdbühne und hörte dem Regisseur, der Günter Hahn hieß, zu. Der hatte schon festgelegt, wer welche Rolle zu spielen hatte und erklärte den Inhalt jeder Szene und was jeder der Darsteller in etwa zu sagen hatte. Den Text im Einzelnen jedoch mußte sich jeder ausdenken. Den Ablauf jeder Szene notierten sich einige, andere waren sicher, daß sie ihn nicht vergessen würden. Es funktionierte sogar. Den jungen Männern schienen die Rollentexte durch die Luft zuzufliegen; die blaue Nacht war erfüllt vom Gelächter der deutschen Gefangenen und der südafrikanischen Soldaten.
Der wichtigste  unter der Darstellern war Peter Helmich, ein Zahnarztsohn aus Hamburg, der durch ein weiches Gesicht, wässerige blaue Augen und einen sanften Gang auffiel. Er spielte die Frauenrollen. Tagsüber blickte mancher hinter ihm her, vielleicht mit undeutlichem Verlangen.

Und nun, auf der Freilichtbühne, die von Scheinwerfern angestrahlt wurde, fühlte Caspers sich noch unwirklicher als während der letzten zwei Jahre. Er war so unwirklich, daß er nicht einmal bemerkte, was er sagte, aber es schien zu der Handlung zu passen, und alle auf der festgestampften Bühne wurde getragen von dem vergnügten Gelächter und Schmunzeln von fast zweitausend Gefangenen, die vermischt mit südafrikanischen Soldaten auf Ziegelsteinen oder auf Brettern saßen, die auf Steinen lagen, und alle waren für zwei Stunden glücklich in einem Land, wo der Boden mit Blut getränkt war wie überall auf der Welt. Auf dieses nächtliche, auf Steinen hockende Heer von Soldaten und Gefangenen blickte Caspers von der Bühne hinab. Er fühlte sich nicht etwa angeblickt von der Menge, eher fühlte er sich gesteigert, geschärft wie ein Messer und ganz bei sich selbst. So war es also, wenn man Theater spielte...
Hier war der Ort gesteigerten Lebensgefühls, hier erlebten alle, Darsteller und Zuschauer, was der Mensch sein konnte und wozu er fähig war; hier war der Ort großer Leidenschaften, Triebe und Untaten, und dennoch kam man am Schluß hier heil heraus.

Dann hieß es plötzlich, man müsse sich zum Abtransport bereitmachen. Hunderte von Gefangenen traten an, aber der Abmarsch verzögerte sich. Einer fehlte.
Erst nach Stunden wurde der Gefangene gefunden. Er hatte sich in dem Erdhaufen unter der Freilichtbühne versteckt, wollte bleiben. Wahrscheinlich fürchtete er, an einen schlimmen Ort geschickt zu werden.
Aber das Ziel war Amerika, was noch keiner der Gefangenen ahnte.


© Karl Otto Mühl - Erstveröffentlichung
in den Musenblättern 2008
- als Vorabdruck des im Herbst im Nordpark Verlag erscheinenden neuen Romans "Die alten Soldaten"