Ich muß nicht fröhlich sein, um zu trinken...

Nessi Tausendschön – „Frustschutz“

von Frank Becker

Ich muß nicht fröhlich sein,
um zu trinken...
 
Lev Sergejewitch Termen wurde 1896 in St. Petersburg geboren. Nessie Tausendschön (Bellis perennis) aus der Familie der Asteraceae hat, als er 1993 im biblischen Alter von 97 Jahren starb, sein Theremin geerbt. Damit macht sie Musik. In Bauchlage. Auf einem Hocker. Ein Stimmwunder. Im dreisätzigen „Es schwillt der Kolben roggengleich“ treibt sie so Schabernack mit zeitgenössischer Musik. Doch zunächst bricht sie in Western- Klamotten eine Lanze für die Amis: „Kennen sie den Unterschied zwischen einem Telefonhörer und einem US-Präsidenten? Den Hörer kann man aufhängen, wenn man sich verwählt hat.“ Aber das hat sich ja in wenigen Monaten erledigt.
 
Nessi redet Tacheles: „Ich bin eine Konifere im Herumhacken auf Roland Koch, weil der so ist, wie er aussieht: Scheiße!“ Das sitzt, wird verstanden und begrüßt. Oder „Mieten sie sich ein Klageweib, wenn sie jammern müssen“ – das ist praktizierter Frustschutz, wie das Lachen über ihre köstliche atemlose Live-Reportage im WDR 6 von den Weltmeisterschaften im Kunstvögeln, mit Beachpoppen, eingesprungener Gemächtwende und anderen Spezialitäten. Das sind echte Ausscheidungen, bei denen die Latte hoch liegt. Der Frage, ob sie das nötig habe, beugt sie vor: Hat sie nicht – aber es macht ihr Spaß! Und sie kann es sich leisten, denn sie ist geistreich.
 
Nessi Tausendschön hat unter ihren charmanten Chansons und lieblichen Liedern eine Paradenummer, die allein genügen würde, ihr den Kleinkunstpreis  zuzusprechen (2003 bekam sie ihn). Im schulterfreien weißen Kleid, mit zerzauster weißer Perücke und bejammernswert gerupften kleinen Flügelchen betritt sie als leicht angetrunkener  „Schutzengel von Frau Tausendschön“ die Bühne, erobert mit zuckersüßem Lächeln und rutschendem Dekolleté auch das letzte eventuell noch verschlossene Herz, philosophiert, beklagt den Zustand der Welt: „Die Kinder heißen heute nicht mehr Kinder, sondern Kids und haben keine Kultur mehr. Die legen sich irgendwann eine Reinigungskassette ein und tanzen dazu! Und ich stehe hier und trage Betroffenheitslyrik vor!“ Sie widerspricht Frau Tausendschön: „Männer und Frauen passen nicht zusammen? Doch, doch – in der Mitte!“ Über ihr Alkoholproblem redet sie offen, säuft sich an, gerät völlig aus dem Leim und singt in der Engels-Tonart C-Dur ihr aberwitziges „Ich trink mir die Welt schön“, wohltönend begleitet von Heike Beckmann am Steinway.

Vergessen wir auch nicht Gaby Pawelka, die Seminarleiterin („Scheitern als Weg zum Erfolg“) und resche Heiratskandidatin aus dem Osten. Das steht sie im ausgeleierten mittelgrünen Wollkostüm und buhlt in postsozialistisch strenger Haltung unvergleichlich um die Gunst des möglichen Zukünftigen. Also, wer die nicht nimmt! Nun kann man ja einiges, was hier beschrieben wird, nicht auf der 2004/05 live aufgezeichneten CD sehen, allenfalls ein paar Bildchen im Booklet. Aber wenn man sich mal auf ihrer Heimseite umschaut, kann man herausfinden, wo diese großartige Künstlerin gerade gastiert. Hingehen lohnt! Weiß ich als Augen- und Ohrenzeuge. Allemal gut genug für weitere Kleinkunst- und gerne auch Großkunstpreise. Und unser großes Kompliment, den Musenkuß.
 
Nessi Tausendschön – „Frustschutz“
Am Klavier: Heike Beckmann
© 2008 Lübbe Audio/Wortart

Gesamtzeit: 1:07:07

Weitere Informationen unter:  www.nessi-tausendschoen.de  -  www.wortart.de